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Suizidhilfe-Arzt Dr. Spittler: Prozess, Freispruch, Revision der Staatsanwaltschaft

Mit welchen Begriffen soll diese Geschichte einer Hilfe zum gemeinsamen Suizid zweier geistig klaren, sterbewilligen Seniorinnen erzählt werden? Mit "aktiver" Sterbehilfe im Sinne von Tötung? Mit Nicht-Hindern eines Doppel-"Selbstmordes" durch den anwesenden Arzt?

Der Fall – Altersuizid ohne tödliche Erkrankung

Der Neurologe und Privatdozent Dr. Spittler war als psychiatrischer Gutachter u. a. für den Verein SterbehilfeDeutschland e.V. tätig, um die Willensfreiheit von Suizidwilligen zu prüfen und zu dokumentieren. Dafür erhielt er im üblichen Honorarordnungsrahmen eine Vergütung – nicht aber für das, was dann folgte. Spittler entschied sich nämlich im Fall von Elisabeth W. (85) und Ingeborg M. (81) auf deren ausdrückliche Bitten hin, sie bei ihrem Freitod zu begleiten. Beide waren verwitwet und kinderlos, wohnten seit 1994 wie Schwestern zusammen. Medien verbreiteten, dass sie sterben wollten, obwohl sie doch "fit" waren und oft noch verreisten. Tatsache ist, sie waren nicht tödlich erkrankt, aber nach eigenen Aussagen des Lebens müde, litten an zahlreichen Altersbeschwerden und wollten sich weiteren Risiken der Verschlechterung nicht aussetzen.

Eine frühere Krebserkrankung der Mundschleimhaut von Elisabeth W. erforderte eine erneute Behandlung, zudem litt sie an einer schmerzhaften und blutenden Knötchenflechte, an Bronchitis und Herzproblemen. Ingrid M. hatte grünen und grauen Star, ein zurückliegender Bandscheibenvorfall bereitete ihr ebenso Beschwerden wie häufige Blasenentzündungen. Die vier Jahre jüngere Ingeborg pflegte die Hautkrankheit ihrer Gefährtin Elisabeth und fühlte sich gelegentlich überfordert. Wohl v.a. aus Unwillen vor den weiteren absehbaren Folgen des Älterwerdens dachten die beiden seit langem über eine gemeinsame Selbsttötung möglichst unter ärztlicher Begleitung nach und bereiteten diese schließlich vor. Mitte September 2012 verbrachten sie eine Woche am Timmendorfer Strand – es war ihnen klar, dass es sich um die letzte Reise handelte, zu der sie bei nachlassenden Kräften noch gemeinsam fähig waren. Noch von dort schrieben sie an den Beschuldigten einen Brief mit fragender Bitte um "doch noch eine Möglichkeit" der Begleitung ihres Suizids. Nach einigem Zögern entschloss sich Dr. Spittler, dieser Bitte zu entsprechen. Seine Motive zur Suizidhilfe hat er in seinem "Letzten Wort" vor Gericht ausführlich dargelegt.

Was am Todestag geschah

Es ist der 10. November 2012. Die beiden Damen hatten Blumen auf den Tisch gestellt, sich elegant angezogen, dann nahmen sie den Giftcocktail – unter Dr. Spittlers Aufsicht. Kurz darauf erfolgten der Eintritt der Bewusstlosigkeit und dann der Tod. Nach einer halben Stunde meldet der Arzt telefonisch der Feuerwehr, dass zwei Suizidfälle vorliegen und er in der Wohnung warten würde. Die eintreffende Polizei findet die schlafend wirkenden Toten in gegenüberstehenden Ohrensesseln in ihrer gemeinsamen Hamburger Wohnung, die ausgetrunkenen Teegläser mit den tödlichen Mitteln vor sich. "Die Szene sah aus wie eine gemütliche Teestunde am Nachmittag", berichtete die Polizistin Claudia S. (58) als Zeugin vor dem Hamburger Landgericht.

Neben anderen geordneten Dokumenten und einem Abschiedsbrief liegt zur Absicherung von Spittler auf dem Wohnzimmertisch handschriftlich "Der Letzte Wille" der alten Damen. Darin erklärten sie klipp und klar:

"Wir bestimmen hiermit ausdrücklich, dass jegliche Entgiftungsmaßnahmen und jegliche Wiederbelebungsversuche unbedingt zu unterlassen sind… im Falle unserer Handlungsunfähigkeit untersagen wir… jegliche Rettungsmaßnahmen.… Wir haben uns diese Entscheidung gründlich genug überlegt. Wir wollen es so."

Der Prozess – Anklage und Freispruch

Worte sind mächtig, besonders bei Gericht, vor welchem sich der ärztliche Suizidhelfer Dr. Johann F. Spittler (75) einer Anklage ausgesetzt sah. Genau fünf Jahre nach dem Geschehen wurde er am 1. November 2017 vor dem Großen Strafsenat des Hamburger Landgerichts mit dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft konfrontiert: Sieben Jahre Gefängnis.

Ein Hauptvorwurf gegen Dr. Spittler lautet, dass er keine Rettungsmaßnahmen eingeleitet beziehungsweise veranlasst hat. Sobald die Frauen bewusstlos geworden waren, so meint die Staatsanwaltschaft, sei er dazu nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus den 1980er Jahren verpflichtet gewesen. Diese frühere Strafrechtsauffassung widerspricht heutzutage allerdings der zivilrechtlichen Gesetzgebung zur Verbindlichkeit einer unmissverständlichen Patientenverfügung.

Demgegenüber erfolgte eine Woche nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft erwartungsgemäß der Freispruch: Keinerlei strafbares Handeln. Doch dagegen wiederum hat die Hamburger Staatsanwaltschaft Revision beantragt, wobei sie den Tötungsvorwurf gegen Spittler und einen Verstoß gegen Rettungspflichten aufrechterhält.

Wäre die ganze Geschichte einen Monat und drei Jahre später passiert, wäre der ärztliche Suizidhelfer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufgrund § 217 StGB verurteilt worden. Entscheidend für die Urteilsfindung mit Freispruch war: Die Spittler vorgeworfene Tat aus dem Jahre 2012 liegt vor der erst 2015 erfolgten Verabschiedung des § 217 StGB (Förderung auch von freiverantwortlicher Selbsttötung) – dieser neue Paragrapf konnte hier also noch gar nicht zur Anwendung kommen. Vorher war die Hilfe zu einem freiverantwortlichen Suizid nicht strafbar und kam der Begriff "Selbsttötung" an keiner Stelle im Strafgesetzbuch vor (hier mehr zur Rechtslage, wie sie bereits im Jahr 2012 bestand).

Es mussten im Prozess gegen Spittler also andere Rechtskonstruktionen herhalten, das wusste natürlich auch die Staatsanwaltschaft. Sie hatte ihn wegen "Totschlags durch vorsätzliche Täuschung" angeklagt – ein Tötungsdelikt in mittelbarer Täterschaft.

Dass der zugrundeliegende, immer schon bestehende § 212 StGB bei ihm aber zu keiner Verurteilung führen konnte, war abzusehen. So erläuterte der Vorsitzende Richter Dr. Steinmann am 8. November bei der Urteilsverkündung:

"Wir sind davon überzeugt, dass Sie sich in Bezug auf den von Ihnen begleiteten Doppelsuizid unter keinem Gesichtspunkt strafbar gemacht haben".

Die schriftliche Willensäußerung der beiden Frauen, die Einleitung lebensrettender Maßnahmen absolut zu untersagen, sei im Sinne einer Patientenverfügung bindend gewesen.

Ärztekammerpräsident Montgomery will Arzt im Gefängnis sehen

Die Staatsanwaltschaft empfand den Freispruch als unerhört und kämpft mit Eifer dagegen an. Sie steht mit dieser Position nicht allein, sondern findet Unterstützung beim Chef der Deutschen Ärzteschaft Prof. Frank Ulrich Montgomery.

Die beiden Frauen hätten "keine todbringende unheilbare Erkrankung" gehabt, sondern lediglich Zukunftsängste und hätten "niemanden zu Last fallen" wollen. Sich diesem Problem zu stellen, sei "eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", erklärte der Bundesärztekammerpräsident auf seiner eigenen Homepage. Der ärztliche Suizidhelfer aber gehöre streng bestraft, forderte Montgomery: "Die Staatsanwaltschaft muss in Revision gehen, denn Ärzte sollen Hilfe beim Sterben leisten, aber nicht zum Sterben." Und promt kam die Hamburger Staatsanwaltschaft dieser Forderung nach.

Nun hat die so friedlich wirkende Selbsttötung von Elisabeth W. und Ingeborg M. voraussichtlich ein weiteres gerichtliches Nachspiel und könnte bis vor den Bundesgerichtshof kommen. Es ist ein sensibler und zugleich juristisch verzwickter Fall, wobei ein Unschuldiger Rechtsgeschichte schreiben könnte. Wegen hinreichender "Verurteilungsunwahrscheinlichkeit" sieht Spittler dem weiteren Verfahren gelassen entgegen und hofft dabei auf die überfällige Abschaffung einer veralterten Strafrechtsauffassung. Aber bis dahin hänge ein Damoklesschwert über ihm und anderen  nach einer humanen Suizidbegleitiung, so Spittler gegenüber der Autorin. Seine persönliche Erklärung finden Sie hier.

Quelle für Details und Hintergründe der vorgeworfenen Tat und zu den Krankheitsbilder der beiden Alterssuizidentinnen: Prof. Dr. Erik Kraatz: Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, in: Juristische Rundschau 2017/293 (Dokumententyp Rechtsprechung zu § 216 und 22 StGB), Walter de Gruyter Verlag, S. 293 - 305

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Gita Neumann
Redakteurin des Newsletters Patientenverfügung

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