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Begründung der Jury

Verflochten im "Prinzip Erinnerung". Christa Wolf hat früh auf eine Art Wechselspiel zwischen Phantasie und Erinnerung aufmerksam gemacht. Bereits in "Lesen und Schreiben" (1968) unterstreicht sie, dass das Mensch-Sein auf der einen Seite der Phantasie bedarf, des "Spiels mit offenen Möglichkeiten".

Zugleich läuft in uns ein schleichender, nicht aufhaltbarer Prozess von Verhärtung und Gewöhnung ab, der sich besonders über die Erinnerung her macht. Es werden "kolorierte Medaillons" produziert, die durch Vereinfachung das Erfahrene einordnen und unser Leben ertragbar-beruhigend machen.

Man kann es auch so sagen: Erinnert wird bevorzugt das, was das eigene Selbst stärkt. Das ist nur natürlich. Aber auf diese Weise wird man nicht an die "blinden Flecken", das Unbewusste, das Nicht-Sichtbare, das Noch-Nicht-Erklärbare, ja das tief verschlossene eigene Ungenügen herankommen. Aber eben dies ist der Anspruch, den Christa Wolf an sich als Person und Autorin stellt. In diesem Fall ist Sich-Erinnern "wie gegen den Strom schwimmen", und schreiben bedeutet, "gegen den scheinbar natürlichen Strom des Vergessens" anzugehen!

Auch in Uwe Johnsons Poetik gewinnt das "Prinzip Erinnerung" zentrale Bedeutung, und er wehrt sich gegen die "Tricks der Erinnerung". Freilich sind die erzählerischen Wege, die beide Autoren dann gehen, unterschiedlich. Christa Wolf setzt darauf, erzählerisches Ich und Autorin eng aneinander zu rücken, und entwickelt für sich das Prinzip der "subjektiven Authentizität", zu dem Tiefe, Zeitgenossenschaft, unvermeidliches Engagement gehören. Ihre Texte entwerfen ein Gewebe, mit dem sie glaubt, dem Netz von alltäglichen Assoziationen, Erlebnissen, Fühlen, Erinnerungen, kurz dem "Gewebe menschlicher Beziehungen" am nächsten zu kommen. Anders Uwe Johnson, der sich als Chronist und Beobachter versteht. Er setzt auf Distanz und spricht bevorzugt in der dritten Person.

Wenngleich die Erinnerungsarbeit unterschiedlich funktioniert, so finden sich wiederum gewichtige Gemeinsamkeiten: Bei Christa Wolf wie bei Uwe Johnson spielen das Gedenken, die Trauerarbeit, die Verflechtung von Gesellschaftlichem und Individuellem, das Changieren zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der Heimatverlust eine gewichtige Rolle. Und für beide ist Erzählen in jedem Fall ein Prozess der Wahrheitsfindung.

Prof. Carsten Gansel, Vorsitzender der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft