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  •   Niemand stellt so kluge und wichtige Fragen wie Kinder, das gilt auch für den Humanistischen ­Lebenskundeunterricht in Brandenburg.
    Foto: Konstantin Börner Niemand stellt so kluge und wichtige Fragen wie Kinder, das gilt auch für den Humanistischen ­Lebenskundeunterricht in Brandenburg.

Die dicken Bretter sind gebohrt

2007 haben wir in Brandenburger Schulen erstmals Humanistischen Lebenskundeunterricht angeboten. Seitdem wächst unser Werteunterricht für Kinder religionsferner Eltern kontinuierlich. Gemeinsam mit Akteuren blicken wir auf seine bewegte Geschichte zurück.

Im Sommer 2001 zog Heike Kuschmierz mit ihrer Familie von Berlin-Karlshorst ins brandenburgische Zeesen. Auf dem ersten Elternabend der 6. Klasse ihrer Tochter bekam sie einen Flyer in die Hand gedrückt, in dem der katholische Religionsunterricht beworben wurde. Kuschmierz, die mit Gott und Kirche wenig anfangen kann, fragte nach einer Alternative für religionsferne Familien. Ganz konkret erkundigte sie sich nach dem Lebenskundeunterricht, den wir in Berlin anboten. "Den gibt es in Brandenburg nicht", antwortete man Kuschmierz knapp. Durchaus verwunderlich, denn in der Hauptstadt besuchten damals bereits fast 29.000 Schüler_innen den Unterricht, dessen Teilnehmerzahl sich inzwischen auf über 60.000 mehr als verdoppelt hat. "Damit war mein Interesse, mich für die Einführung des Fachs in Brandenburg zu engagieren, geweckt", sagt Kuschmierz. Sie gründete eine Elterninitiative, die sich an Politiker_innen, Jurist_innen und die Öffentlichkeit wandte. Doch es brauchte erst eine Klage vor dem Verwaltungsgericht in Brandenburg, um den begründeten Anspruch auf einen nichtreligiösen Werteunterricht gerichtlich durchzusetzen.

Die Geschichte des Religions- und Lebenskundeunterrichts in Brandenburg ist eine besondere, was auch an dem 1996 eingeführten verbindlichen Schulfach "Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde", kurz LER, liegt. Zwischen 1992 und 1995 wurde dieses Fach in Brandenburg an mehreren Modellschulen erprobt, in dieser Phase sogar unter Beteiligung der Kirchen. Als LER 1996 flächendeckend als ordentliches Schulfach eingeführt wurde, gingen die Kirchen auf die Barrikaden. Weil die Brandenburger Regierung die sogenannte Bremer Klausel anwendete, der zufolge Religionsunterricht kein staatliches Schulfach mehr sein sollte. Sie klagten dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht. In den Anhörungen anno 2001 machten die Richter deutlich, dass die Klage der Kirchen scheitern würde, wenn sie sich nicht auf folgenden Kompromiss einlassen würden: LER bleibt ordentliches Schulfach, der Religionsunterricht ein freiwilliges Zusatzfach außerhalb des Curriculums. Der Kompromiss bestand darin, dass sich die Schüler_innen des Religionsunterrichts von LER abmelden konnten.

Problematisch war diese Einigung nicht nur, weil sie zur Aufteilung der Schüler_innenschaft beitrug, sondern vor allem, weil LER erst ab der 5. Klasse angeboten wurde. "So hatte der Religionsunterricht ein Monopol in den ersten vier Jahren der Grundschule inne. Bei etwa 80 Prozent nichtreligiösen Kindern war das ein kleiner Skandal", erinnert sich Werner Schultz, ehemaliger Leiter unserer Bildungsabteilung, der diese Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirchen damals für den Verband beobachtete. Unser Verband wurde von Eltern, Politik und seinen Mitgliedern gedrängt, eine Alternative für diese konfessionsfreien Schüler_innen in Brandenburg anzubieten.

Wir wurden von Eltern, Politik und unseren Mitgliedern gedrängt, eine Alternative zum Religionsunterricht in Brandenburg anzubieten.
Foto: Christoph Eckelt Wir wurden von Eltern, Politik und unseren Mitgliedern gedrängt, eine Alternative zum Religionsunterricht in Brandenburg anzubieten.

Eine zentrale Person bei der Einführung des LER-Unterrichts in Brandenburg, aber auch des verbindlichen Ethik­unterrichts in Berlin, war der 2011 gestorbene Bildungspolitiker Gerd Eggers. Der gebürtige Oldenburger gehörte zu denen, die sich kurz nach der Wende im Haus des Lehrers mit anderen Bildungsexperten zusammentaten, um neue Konzepte zu entwickeln, die den Schüler_innen eine bewusste Auseinandersetzung mit ethischen und moralischen Fragen ermöglichten. Er brachte uns mit dem Fachverband Ethik zusammen und formulierte die entscheidenden Leitlinien für das offene und zugewandte Nebeneinander von LER und Humanistischer Lebenskunde. "Wir waren sehr froh, dass dies gelang, denn das Fach LER sahen wir nie als Gegner, sondern immer als wichtiges schulisches Angebot für alle Schüler_innen", erinnert sich Werner Schultz. "Unser Unterrichtsangebot verstanden wir immer als freiwillige Ergänzung, die – wie der Religionsunterricht für gläubige Menschen – nichtreligiösen Familien Gelegenheit gibt, ihren Kindern die humanistische Weltsicht zu vermitteln."

Hier treffen die Geschichten von Heike Kuschmierz und Werner Schultz zusammen. Kuschmierz wurde von uns gebeten, den Aufbau von Humanistischer Lebenskunde in Brandenburg zu begleiten. Während wir intensive Diskussionen mit dem Fachverband LER führten, um das Problem einer möglichen Konkurrenz zu minimieren, suchte Kuschmierz nach Lehrkräften, erarbeitete einen an die Brandenburger Situation angepassten Rahmenlehrplan und führte Gespräche mit interessierten Schulen.

"Wir begannen ganz klein, mit nicht mehr als 200 Schüler_innen an insgesamt neun Schulen", erinnert sich die 54-jährige Wahlbrandenburgerin. Bis zum Ende des Schuljahres 2007 wurde Humanistische Lebenskunde in 16 Arbeitsgemeinschaften unterrichtet. Finanziert wurde der Unterricht mit Lottomitteln des Landes Brandenburg. Für das Schuljahr 2007/2008 schloss das Land Brandenburg erstmals eine Vereinbarung mit uns, die analog zu den Kirchen den humanistischen Werteunterricht als freiwilliges Unterrichtsfach an den Brandenburger Schulen etablierte. Erst im vergangenen Dezember wurde diese erneuert und die Finanzierung für Kirchen und unseren Verband verbessert. Wie schief dabei das Verhältnis ist, zeigen die nackten Zahlen: Von dem erhöhten Zuschuss um 1,1 Millionen Euro jährlich erhalten wir 45.000 Euro, die beiden Kirchen teilen sich etwas mehr als eine Million Euro.

Elke Blumberg unterrichtet seit 2010 an zwei Schulen in Märkisch-Oderland Humanistische Lebenskunde. Sie macht deutlich, dass die größte Herausforderung in den Rahmenbedingungen liegt, die sie in den Schulen vorfindet. "Der Lebenskundeunterricht findet auch zehn Jahre nach seiner Einführung in Brandenburg meist in den Randstunden statt, also erst nach der vierten Unterrichtsstunde. Das macht uns die Arbeit nicht unbedingt ein­facher", erklärt die Lehrerin. Der humanistische Unterricht stehe so auch immer in Konkurrenz zum Hortangebot oder den Schul-AGs am Nachmittag. Beeindrucken lässt sie sich davon aber nicht. "Was soll ich lamentieren?", fragt sie. "Ich arbeite lieber weiter kontinuierlich daran, mit unserem Angebot in den Vormittagsbereich zu kommen. Solange das nicht der Fall ist, nutze ich die Freiheit unserer späteren Stunden. Dann gehe ich mit den Schüler_innen auch mal aus der Schule raus oder stoße mit ihnen neue Projekte in der Schule an." So hat Elke Blumberg zahlreiche Kooperationen mit außerschulischen Institutionen initiiert, etwa mit dem Kreiskinderjugendring, dem lokalen Familienbündnis oder dem ehrenamtlichen Helferkreis für geflüchtete Familien. "Die Zusammenarbeit in diesen Netzwerken erhöht wiederum unsere Präsenz und damit auch die Chance einer besseren Integration des Lebenskundeunterrichts an der Schule."

Uns rufen Schulleitungen an und fragen, wann wir denn endlich mit unserem Lebenskundeunterricht an ihrer Schule an den Start gehen.
Foto: Christoph Eckelt Uns rufen Schulleitungen an und fragen, wann wir denn endlich mit unserem Lebenskundeunterricht an ihrer Schule an den Start gehen.

Die dicken Bretter sind gebohrt, seit 2007 ist der Humanistische Lebenskundeunterricht in Brandenburg beständig gewachsen. Inzwischen besuchen mehr als 2.400 Schüler_innen den Unterricht in knapp 40 Schulen, die Lehrkräfte unseres Verbandes sind durchschnittlich an drei bis vier verschiedenen Schulen tätig. Besonders hoch ist die Nachfrage im Berliner Umland. "Hier profitieren wir sicher auch von der Bekanntheit und dem guten Ruf des Humanistischen Lebenskundeunterrichts in Berlin", räumt Kuschmierz ein.

Aber auch im restlichen Brandenburg ist zu spüren, dass der humanistische Unterricht in der Brandenburger Schule angekommen ist. So weiß Elke Blumberg von Schüler_innen, "die zu Hause offensichtlich so lebhaft von ihrem Lebenskundeunterricht erzählen, dass ich in jedem Schuljahr begeisterte kleine Geschwister kennenlernen kann." Nichts könne die mentalen Energiereserven besser aufladen als solche Schneeballeffekte, erklärt Blumberg.

Auch unser Verband spürt diesen Effekt bei der Organisation. Waren in den ersten Jahren noch ausführliche Präsentationen des Unterrichts in den Schulen nötig, kommen die Schulen inzwischen auf uns zu, weiß die Lebenskunde-Koordinatorin für Brandenburg Karina Berg zu berichten. "Mich rufen Schulleitungen an und fragen, wann wir denn endlich mit unserem Lebenskundeunterricht an ihrer Schule an den Start gehen. Schließlich sei die Nachbarschule auch versorgt."

Momentan sei das nicht immer möglich, räumt Berg ein, weil der Lehrkräftemangel auch und vor allem die Anbieter des freiwilligen Religions- und Weltanschauungsunterrichts trifft. Wir haben deshalb unsere Ausbildungskapazitäten erhöht und ein neues Weiterbildungsstudium etabliert. "Ich bin mir sicher, dass wir in zwei bis drei Jahren auch die Schulen im Land Brandenburg mit Humanistischem Lebenskundeunterricht versorgen, an denen wir bislang der Nachfrage nicht nachkommen können", gibt sich Berg optimistisch.

Bis dahin gilt, was bisher schon galt. "Wir wollen dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft menschlicher wird", erklärt David Driese, Leiter unserer Bildungsabteilung. "In der Schule heißt das, zuhören und die Fragen der Schüler aufgreifen. Denn niemand stellt so kluge und wichtige Fragen wie Kinder. Ihnen wollen wir Antworten geben – jeden Tag aufs Neue."

Dieser Rückblick ist im Geschäftsbericht 2017 des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg erschienen.