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Den Anker werfen

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Rituale gibt es in verschiedener Form – bei uns etwa als "große" Feiern, die regelrecht zelebriert werden. Zu einem besonderen Anlass. Mit einem gewissen Aufwand. In Gemeinschaft, vor Publikum, an speziellen Orten. Namensfeier. Jugendfeier. Hochzeit. Trauerfeier. Gut, dass es diese Rituale gibt. Zugleich und daneben aber ist die Welt der Rituale noch größer. Genauer gesagt: kleiner. Die Rede ist von ziemlich wertvollen kleinen Zeremonien, deren Existenz man sich nicht so schnell bewusstmacht und die dennoch gerade in Krisenzeiten mit ihren Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln ein wichtiger und stützender Bestandteil des eigenen Alltags werden können.

Die kleinen Rituale, die ich meine, haben nichts mit magischen Zeremonien bei Mondlicht und dem Absingen religiöser Mantras zu tun. Sie sind in erster Linie nichts Anderes als feste Handlungsabläufe, die zu bestimmten, festgelegten Zeiten stattfinden und einen immer gleichen und wiederkehrenden Ablauf haben. Sie sind zutiefst menschliche Phänomene, die mitten im Alltag stattfinden und über die man sich in der Regel gar keine großen Gedanken mehr macht, weil sie vollkommen normal geworden sind.

Zum Beispiel, wenn man morgens gähnend die Kaffeemaschine anstellt, noch bevor man so richtig wach geworden ist. Wenn man bei geöffnetem Fenster das Bett macht. Wenn man jeden Morgen joggen geht. Und dann unter die Dusche. Diese Dinge. Solche Rituale sind zum einen einfach notwendige Gewohnheiten – sie können aber auch zu einem Anker werden, mit dessen Hilfe man seinem Leben Stabilität und Orientierung geben kann.

Denn Rituale verleihen dem Alltag Struktur und vermitteln ein Gefühl der Sicherheit. Wir mögen nicht über das Wissen und Fähigkeiten verfügen, den Corona-Virus zu besiegen. In dieser Angelegenheit erleben wir eher Ohnmacht und große Abhängigkeit von Politik und Wissenschaft. Aber was die kleinen Dinge angeht, so besitzen wir eine gewisse Kontrolle. Was das Bettmachen am Morgen angeht: da kennen wir uns aus. Die Technik des Kaffeemachens am Morgen: kein Thema. Kein Stress. Kein Anpassungsdruck. Nichts Unvorhergesehenes. Sich festmachen. Einen Anker werfen. Als Ankerpunkte im Leben sind solche kleinen Rituale gerade auch in schwierigen Zeiten wichtig. Sie bestehen weiter, wenn äußerer Stress überhandnimmt. Ihre stetige Wiederholung vermittelt Sicherheit und Halt. Und wenn man sie etwas bewusster angeht, werden sie mehr als Gewohnheit, sie werden zu einem Teil humanistischer Lebenskunst.

Dafür könnte es lohnen, sich selbst die Frage zu stellen: wo gibt es noch Ankerpunkte in meinem Leben, die mir guttun könnten? Wo kann ich regelmäßig und auf positive Weise Struktur in mein Leben bringen?  Das mit dem Kaffee ist schon mal gut – aber kann man noch mehr für sich tun, direkter, bewusster? Die wenigsten von uns haben Erfahrung damit, wie man sich in kritischen Situationen selbst unterstützen kann – zum Beispiel während viraler Krisen. Es gab im Leben der meisten Menschen bisher nichts Vergleichbares. Da kann es hilfreich sein, Neues auszuprobieren und zusätzliche kleine Rituale in den eigenen Alltag einzubauen. Rituale, die ganz bewusst dazu da sein können, sich selbst Gutes zu tun. Ein paar Beispiele für solche Alltagsrituale:

  • Regelmäßig um 17 Uhr eine Tasse Tee zu trinken. Und sich den Wecker dafür zu stellen. Very British. Einfach so. Und diesen Tee achtsam und mit Genuss zu trinken. Wer keinen Tee mag, nimmt Cola, Kaffee, kaltes Wasser oder was auch immer – darauf kommt es nicht an. Worauf es ankommt, ist die kurze, bewusste Unterbrechung des Alltags, die strukturgebende Pause, das Zelebrieren mit Genuss.
  • Jeden Morgen beim ersten Blick in den Spiegel fünf Dinge laut sagen, für die man dankbar ist: Gesundheit, Liebe, Freunde, was auch immer. Dankbarkeit ist eine enorm positive Emotion, die das Gestimmtsein, mit dem ich in den weiteren Tag gehe, entsprechend beeinflussen kann. Geht nicht ganz so gut als Morgenmuffel.
  • Sich selbst im Spiegel freundlich begrüßen und anlächeln. Diesen Anblick einen langen Moment lang halten. Regelmäßig und grundsätzlich. Egal, was man gerade sonst von sich hält. Aus Respekt dem eigenen Dasein und Menschsein gegenüber.
  • Ganz bewusst den eigenen Atem zu zelebrieren – woran man durch sein Handy mittels Tonsignal erinnert werden kann. Je nach Geschmack z. B. alle zwei Stunden. Dafür gibt es Achtsamkeits-Apps, die man sich aufs Handy runterladen kann. Wenn ich das Signal höre, nehme ich drei tiefe Atemzüge – so, dass es mir guttut. Dazu kann ich innerlich einen Satz sprechen wie: "Ich atme auf" oder "Ich beruhige meinen Geist". Oder ich beobachte einfach nur still, wie mein Atem ein- und ausfließt.
  • Einmal am Tag fünf Minuten lang das eigene Bewusstsein auf etwas richten, was guttut und für einen selbst positiv konnotiert ist: Objekte, Fotos, Zitate, Gedichte, Lieder, Video-Clips, Gerüche, Geschmack, Taktiles. Ich feiere das Positive. Und zelebriere das. Etwa, indem ich mich um mich herum einen Kreis von Dingen aufbaue, mit denen ich Positives verbinde.

Diese Möglichkeiten können mitunter auf den ersten Blick fremd oder seltsam erscheinen. Ein neugieriger Versuch könnte sich dennoch lohnen. Und für wen dies wirklich nichts ist, kann vielleicht nach einem anderen, eher geeigneten Alltagsritual für sich selbst suchen - immer unter der Voraussetzung, dass man es als sinnvoll empfindet und es tatsächlich guttut.

Ein solches Ritual ist der Idee nach dazu geeignet, Kraft und Positivität für sich zu gewinnen. Um das eigene Menschsein und das eigene Leben zu zelebrieren und zu feiern. Das ist ein wichtiger Bestandteil humanistischer Feierkultur und Lebenskunst. Und wenn es dazu beiträgt, Mut und Widerständigkeit aufzubauen, um zentrale humanistische Werte im eigenen Leben zu etablieren und sich offen für diese einzusetzen, ist es auch alles Andere als reiner "Feel-good-Humanismus". Dann sind diese kleinen Rituale Puzzlesteine auf dem Weg zu einer solidarischen, offenen, lebensfreundlichen und menschlichen Gesellschaft, in der es sich zu leben lohnt.

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Christian Lisker
Referent für praktischen Humanismus
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