Ralph Knauf, Offizier der Bundeswehr, setzt sich in seinem Beitrag mit militärischer Gewalt und humanitären Einsätzen auseinander.
Lieber Ralf, auf Deine Erwiderung auf meinen Artikel "Humanismus und Bundeswehr – unvereinbar" im "Freien Denken" Nr. 2 muss ich noch einmal zurückkommen. Zur Erinnerung: Wir waren im Dissens, ob in der Bundeswehr Seelsorge und humanistische Beratung zugelassen werden sollte oder nicht. Ich, der Bundeswehroffizier, lehnte das mit Verweis darauf ab, dass traumatisierte Soldaten von wissenschaftlich geschultem Personal betreut werden sollten und dass Krieg und der Soldatenberuf mit einer humanistischen Weltanschauung überhaupt unvereinbar wären. Du erwidertest, und jetzt zitiere ich wörtlich, um Dich nicht umzudeuten: "Humanismus und Militarismus passen nicht zusammen – keine Frage. Aber sind Humanismus und Militär wirklich unvereinbar? […] Ich könnte es mit meiner humanistischen Weltanschauung nicht vereinbaren, wenn unbedingter Pazifismus Pflicht wäre und Notwehr verboten. Insofern setze ich mich für möglichst gewaltfreie Konfliktlösungen ein, halte aber eine Bundeswehr, als Verteidigungsarmee, für legitim und verurteile deren Angehörigen nicht pauschal."
Kriegsdienstverweigerung – warum?
Es tut mir Leid, lieber Ralf, das so schreiben zu müssen, aber es ist einfach naiv anzunehmen, es handele sich beim Einsatz militärischer Gewalt um so etwas wie Notwehr und Nothilfe gegenüber einzelnen Menschen. Wir denken so leichthin, für unseren Schutz vor Gewalttätern sind Polizisten und Soldaten zuständig. Beide sind sie bewaffnet und beide machen eigentlich das Gleiche, sie wehren Gewalt ab. Der einzige Unterschied ist, so meinen wir, der eine wird im Inneren eingesetzt und der andere außerhalb der Landesgrenzen.
Und ich will Dich hier gar nicht fragen, welche tatsächliche tiefe innere Gewissensnot dich vor Jahren dazu zwang, den Dienst in der Bundeswehr zu verweigern. Der einzig echt anerkennenswerte Grund, den Dienst zu verweigern, wäre nämlich der: "Militär und jede Form von Krieg dürfen nach meiner tiefsten ethisch-sittlichen Überzeugung nicht sein, und eben deshalb: Ich nicht!" Full Stop! Der inzwischen 32-jährige Dienst in zwei deutschen Armeen hat mir die Augen geöffnet; hat mich gelehrt, das wahre Wesen militärischer Gewalt zu sehen. Er hat mich zum bedingungslosen Pazifisten gemacht. Es klingt wohl wie die Quadratur des Kreises, aber es ist möglich: gleichzeitig Pazifist und Offizier der Bundeswehr zu sein. 2011 erklärte ich meinem Disziplinarvorgesetzten schriftlich, dass ich die bewaffneten Auslandseinsätze der Bundeswehr für rechtswidrig halte. Sollte ich in einen solchen Einsatz befohlen werden, müsste ich den Gehorsam verweigern. Aus welchen Gründen auch immer: In einen Einsatz wurde ich bisher nie befohlen.
Wer darf Menschen unter welchen Umständen töten?
Das Wesen militärischer Gewalt ist von der zivilen, polizeilichen Gewalt, auch vom einfachen "Recht auf Notwehr und Nothilfe" grundverschieden. Der freiheitliche Rechtsstaat und die Bundeswehr im Krieg (euphemistisch "Einsatz" genannt) passen nicht zusammen, ja sie schließen sich definitiv und kategorisch aus. Der gravierendste Unterschied zwischen Polizist und Soldat besteht wohl in der Frage der Tötung der Adressaten von Zwangsmaßnahmen. Einem Polizisten, wie jedem Menschen unserer Gesellschaft, ist die Tötung von Menschen, nicht nur von Unbeteiligten, sondern auch von Zielpersonen, grundsätzlich verboten. Dem gegenüber ist Soldaten im Einsatz, im Krieg und im bewaffneten Konflikt das Töten von Menschen grundsätzlich erlaubt. "Die Angehörigen der Streitkräfte einer am Konflikt beteiligten Partei (mit Ausnahme des ... Sanitäts- und Seelsorgepersonals) sind Kombattanten, das heißt, sie sind berechtigt, unmittelbar an Feindseligkeiten teilzunehmen."[1] Übersetzt heißt das: Menschen, die eine Uniform tragen, sind Freiwild, sind zum Abschuss freigegeben. Wir Soldaten haben im Krieg eine Lizenz zum gegenseitigen Töten. Kombattanten töten sich sowieso, aber auch alle anderen Menschen dürfen immer dann straflos(!) getötet werden, wenn sie dem gesetzten militärischen Ziel im Wege sind. Und es gibt immer Wege und Möglichkeiten zu begründen, weshalb das militärische Ziel das Töten aller anderen Menschen erforderlich machte.
Ein Polizist, hingegen, hat sich immer auf die Erzielung von Angriffs- und Fluchtunfähigkeit zu beschränken und selbst beim Vorgehen gegen einen zu allem entschlossenen Geiselnehmer oder Terroristen (also auch gegen einen militärisch agierenden Störer!) immer dessen Leben zu achten und zu bewahren. Das Leben darf nur gefährdet oder notfalls auch ausgelöscht werden, wenn dadurch ein konkretes anderes, von dem Störer bedrohtes Leben gerettet werden kann. Der Rechtsbrecher verursacht dabei die Gefahr des polizeilichen Angriffs auf seine Person durch seinen eigenen Willen. Er kann die Gefahr jederzeit selbst beenden durch Ablassen von seinem Angriff, was bei hierarchisch strukturierten, militärisch agierenden Formationen unmöglich ist.
Sofortige unmittelbar tötende Gewalt ist nach Polizeirecht nur(!) bei einer bewaffneten Geiselnahme gestattet, um eine reflexhafte Tötungshandlung von Seiten des Geiselnehmers durch die Zerstörung seines Zentralnervensystems zu verhindern.[2] Gleichwohl müssen sich Polizisten auch in diesem Fall immer vor Gericht für ihre Handlung verantworten und können dort mit den Straftatbeständen Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge konfrontiert werden. Für Soldaten sind diese Straftatbestände im Krieg, bewaffneten Konflikt und auch im Einsatz ausgesetzt.
Grad der Vernichtung hängt immer vom Widerstand des Feindes ab.
Lieber Ralf, hast Du die Bilder von Aleppo oder Ost-Ghuta im Februar dieses Jahres im Fernsehen gesehen? Und die Empörung über das Vorgehen der syrischen und russischen Truppen in unseren Medien darüber gehört? Gleichzeitig verlängerte unser Bundestag wieder Bundeswehrmandate. Welche Heuchelei! Denn würde die Bundeswehr eingesetzt, um eine Stadt von militärisch agierenden "Feinden", wie die Islamisten in Syrien, zu säubern, würde diese Stadt mit Sicherheit anschließend genauso aussehen. Die Militärische Vernichtungskraft jeder Armee dieser Welt hängt immer vom Grad des Widerstandes des Feindes ab. Je größer der Widerstand desto größer die Vernichtungswirkung.
Stellen wir uns weiter vor, wir beide wären im Rahmen einer – legitimen – Verteidigungsoperation am Westufer des Rheins eingesetzt. Der Feind wäre, von Osten kommend bis Düsseldorf vorgedrungen, hätte Düsseldorf besetzt und wir hätten den Auftrag, mit allen verfügbaren Mitteln zu verhindern, dass er den Rhein nach Westen forciert. Denn dort befinden sich in Brunssum und weiter entfernt in Mons zwei wichtige NATO-Hauptquartiere, die es unter allen Umständen zu halten gilt. Was würden wir beide tun? Zunächst natürlich sämtliche Brücken zerstören. Sprengen, bombardieren, mit Raketen beschießen, egal wie, die Dinger müssen weg. So schnell wie möglich. Und da spielt es auch keine Rolle, ob und wie viele Menschen da noch drauf sind und ob wir die noch rechtzeitig evakuieren können. Vielleicht schaffen wir die Räumung, vielleicht auch nicht. Wird Deine Familie, oder meine Familie, oder Freunde, Angehörige, Fremde, hunderte, tausende Menschen betroffen sein? Wer weiß? Vermutlich wären die Straßen verstopft, mit Menschen überfüllt, die versuchten, noch in letzter Minute zu fliehen. Wenn es nicht gelingt, würden vermutlich alle der Erfüllung des militärischen Auftrags geopfert. Dafür haben wie das lustige Wort "Kollateralschaden" erfunden. Jedes einzelne menschliche Leben, das im freiheitlichen Rechtsstaat einen Höchstwert besitzt, tritt nun zurück hinter die Erfordernisse militärischer Logik und darf rücksichtslos vernichtet werden. Alle Sorgen, alle Nöte, die Du um Deine Kinder, Deine Angehörigen bis jetzt hattest, die gestern noch wichtig waren, lösen sich plötzlich auf, weil sie nach dem Angriff nicht mehr leben, weil sie diesem militärischen Zweck geopfert wurden.
"Nein!" sagen gibt es dann für uns nicht mehr. Wenn du nicht mitmachst, gefährdest du ja deine eigene Truppe, und das brächte dich im besten Fall wegen Gehorsamsverweigerung vor das Truppendienstgericht. Hätten wir übrigens mit konventionellen Waffen keinen Erfolg, dann stünden uns in diesem Fall auch Atomwaffen zur Verfügung. Denn ich schätze, im militärischen Kalkül wäre der Einsatz von Atomwaffen für die Erhaltung von zwei äußerst wichtigen NATO-Hauptquartieren durchaus angemessen.
Nach unserem Erfolg begänne die Rückeroberung von Düsseldorf, wenn von der Stadt noch etwas übrig ist, durch die von Dir als "legitim" bezeichnete Bundeswehr in einem "legitimen" Verteidigungskrieg. Und hier wären zuallererst wieder die Bomber gefragt, die wir anfordern würden. Denn wieder: um die eigene Truppe zu schonen, setzen wir am besten Distanzwaffen ein, was zur Folge hätte, dass die "Kollateralschäden", also die zivilen Opfer weiter ansteigen. Und wenn Deine Familie gestern durch Zufall noch überlebt hätte, dann wird es sie wohl heute treffen, oder auch nicht, vielleicht auch morgen oder übermorgen, vielleicht wird es auch andere treffen, Deine Nachbarn, Freunde...
Ich hoffe, lieber Ralf, Du merkst, dass das Ganze hat mit simpler "Notwehr und Nothilfe" gegenüber einzelnen nichts mehr zu tun.
Was wäre der Ausweg?
Um es kurz zu machen: Krieg und bewaffnete Konflikte sind durch Menschen gemachtes, vermeidbares Unglück. Wir sollten sie gar nicht erst beginnen und sie unmöglich machen durch folgende Maßnahmen:
Sofortiges, strenges und internationales Verbot des Einsatzes von Kriegswaffen,
Weltweite Abrüstung aller Kriegswaffen unter strenger internationaler Kontrolle in Analogie zur Abrüstung der Chemiewaffen. Seit nunmehr 15 Jahren begleite ich dienstlich diese Abrüstung und kann bestätigen: es funktioniert!
Ersatzlose Abschaffung des "naturgegebenen Rechts zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung" nach Artikel 51 der UN-Charta. Erstens gibt die Natur niemals Recht, sondern Recht wird immer von Menschen geschaffen, um ihnen das gemeinsame Leben auf der Erde zu erleichtern und zweitens verleitete dieser Artikel so häufig zu Missbrauch, dass wir uns schon deshalb so schnell wie möglich von ihm trennen sollten.
Abschaffung des sogenannten "humanitären Kriegsvölkerrechts" und Ersatz durch rechtsstaatlich verfasstes Polizeirecht. – Das humanitäre Kriegsvölkerrecht ist eine rationale Vertragsordnung zum wechselseitigen Vorteil Krieg führender Staaten. Nichts daran ist humanitär! Wo Krieg geführt wird, sind Menschenrechte abgeschafft, ist der Humanismus am Ende. Da gibt es nur Vernichtung.
Das Programm umzusetzen wäre möglich, wenn unsere knapp 200 bis 300 gewählten oder nichtgewählten führenden Politiker das wollten. Rechtlich verpflichtet, sich für Abrüstung einzusetzen, wären sie jedenfalls schon heute. Seit nunmehr 50 Jahren schreibt der Artikel VI des fast universell geltenden Atomwaffensperrvertrages vor, Verhandlungen über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung zu führen.
Wenn wir Humanisten, allerdings, nicht unisono für Frieden und Völkerverständigung, kompromisslos für die weltweite Abschaffung aller Kriegswaffen und aller Armeen eintreten, dann brauchen wir uns auch nicht mehr über humanistische Pädagogik, humanistischen Jugendfeiern und humanes Sterben, nicht über Seelsorgegespräche, nicht über kirchliches Arbeitsrecht, kirchliche Privilegien und Ablösung von Dotationen, nicht über Kopftücher und Schwangerschaftsabbrüche, auch nicht darüber, ob Pastafari nun eine Weltanschauungsgemeinschaft sind oder nicht, nicht über Kreuze in Kasernen und in öffentlichen Gebäuden, nicht über alles das, worüber wir uns im "Freien Denken" austauschen oder worüber im "Humanistischen Pressedienst" so trefflich geschrieben wird, zu unterhalten. Ohne bedingungslosen Pazifismus, ohne echten Frieden ist alles nichts. Ohne Achtung des universellen Menschenrechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit, ohne Abwesenheit militärischer Gewalt wird jeder Humanismus zur Farce. Denn jeder Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ganz gleich ob er ein Angriffs- oder ein Verteidigungskrieg ist.
Ralph Knauf
(Als Offizier der Bundeswehr muss ich aus disziplinaren Gründen darauf hinweisen, dass ich hier ausschließlich meine persönliche Meinung vertrete.)
[1] Aus dem Zusatzprotokoll vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte
[2] Thorsten Stodiek: Internationale Polizei als Alternative zur militärischen Konfliktbewältigung, Frankfurt 2002 S. 42f.
Dieser Artikel erschien im aktuellen Freien Denken 4/2018, hier geht es zur Gesamtausgabe.