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Atheist „predigt“ in der Kirche

Hubertusburg
(c) Steffi Pelz / pixelio.de Hubertusburg

Am 14. und 15. September 2018 fanden unter dem Motto "Ertraget einander – Leben wir im (Un)Frieden?" in Wermsdorf (Sachsen) die 7. Hubertusburger Friedensgespräche statt, deren Anspruch es ist, den Friedensgedanken, der mit dem Hubertusburger Frieden von 1763 gesät wurde, weiter am Leben zu halten. Zum Abschluss gab es ein interreligiöses Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern der römisch-katholischen und evangelisch-lutherischen Kirche, der Ahmadiyya Moslem-Gemeinde Leipzig, des Bundes evangelisch-freikirchlicher Gemeinden, der Bahá’í Gemeinde Leipzig sowie des weltanschaulichen Humanismus. Bei einer "Statio" (Standortbestimmung) in der katholischen Kapelle St. Hubertus des Schloss Hubertusburg trugen die jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter ihre Ansprachen vor. Dabei stand nicht die konfessionelle Bedeutung dieses Ortes sondern seine besondere historische Bedeutung samt aktueller thematischer Bezüge im Vordergrund. Untenstehend finden Sie die Ansprache von Ralf Schöppner, der den Humanistischen Verband und die Humanistische Akademie Deutschland vertreten hat:
 

Ertraget einander – Leben wir im (Un)Frieden?

So lautet das Motto der diesjährigen Hubertusburger Friedensgespräche. Ich sage dazu etwas aus humanistischer Perspektive.

Zunächst zum ersten Teil: "Ertraget einander". Ein ganz wichtiges Motto. Da unterschreibe ich Ihnen den Paulus gerne. Denn allzu oft wird heute das Leben in einer offenen Gesellschaft für ein Picknick gehalten oder zu einem solchen verklärt. In einer offenen Gesellschaft aber bedarf es der Fähigkeit, auch Lebensweisen zu ertragen, die einem eigentlich gegen den Strich gehen. D.h. einer Toleranz im eigentlichen Wortsinne: Ertragen, Erdulden. Verstünde man Toleranz ausschließlich als problemlose Akzeptanz von fremden Lebensweisen, gegen die man nichts hat, dann wäre das deutlich zu wenig.

Und doch hat das Ertragen auch Grenzen.

Eine Erfahrung aus Nürnberg, Westdeutschland, wohlgemerkt.

Ein Bierlokal, Juni 2018. Die Männer rechts neben mir äußern sich schon bald zwei Halbzeiten lang lautstark sexistisch und rassistisch. Und zwar in Richtung der Gruppe links von mir, bestehend aus südländisch aussehenden Männern mit zwei sehr nordisch wirkenden Blondinen. Als Toni Kroos dann endlich in der Nachspielzeit gegen Schweden dieses Wahnsinnstor macht, kennt der Jubel fast keine Grenzen. Fast. Denn zumindest ich werde plötzlich und ungewollt umarmt von den unsympathischen Kerlen rechts neben mir. Ich werde von Ihnen geherzt und gedrückt.

Das war schwer bis kaum zu ertragen. Und ich habe einmal mehr gemerkt: Ich möchte nicht alles ertragen. Wir alle müssen uns auch darüber klarwerden, ab welchem Punkt das Motto "Ertraget einander" auch seine Grenzen hat.

Nun zum zweiten Teil des Mottos, der Frage: Leben wir im (Un)Frieden?

Ja und nein, liebe Gäste.

Zunächst einmal: Ja, wir leben im Unfrieden. Ich möchte jetzt aber nicht all die kriegerischen, gewaltförmigen, konfliktiven Phänomene aufzählen, die sich in Deutschland und weltweit, regelmäßig zutragen. Wir hören genug davon, selbst wenn es immer wieder Protagonisten – auch in Amt und Würden – gibt, die die Dinge herunterspielen oder gar anzweifeln. Ich möchte die knappe Zeit lieber dazu nutzen, eine Unterscheidung zu treffen.

Gestern Morgen rief mich meine Tochter im Büro an. Sie konnte vor lauter Aufregung nicht normal sprechen und kaum verständlich erklären, was passiert ist. Erst nach einer Weile verstand ich: An ihrer Schule gäbe es einen großen Polizeieinsatz, viele Polizeiautos, viele bewaffnete Polizisten. Es seien zwei Jugendliche mit Waffen gesehen worden, nun sei die Schule abgesperrt. Sie sei so froh, dass sie und ihre Freundinnen da nicht drin seien, weil Deutsch ausgefallen war und sie stattdessen beim Bäcker waren.

Liebe Gäste: Wie schnell kann das Grauen ganz in der Nähe sein! Und deshalb möchte ich deutlich dafür plädieren, aufrichtige Ängste von Menschen vor Gewalt, Unfrieden und Veränderungen in unserem Land ernst zu nehmen. Wohlgemerkt: Aufrichtige Ängste. Nicht also die sogenannten "Ängste" derjenigen, die dahinter doch nur ihre trübe Gesinnung verstecken wollen.

Ich möchte aber darüber hinaus auch für eine Unterscheidung plädieren: Bei allem, was einem auch hierzulande so alles an Gewalt oder Unfrieden widerfahren kann, sehen doch die Lebensbedingungen in vielen anderen Gegenden dieser Welt noch einmal ganz ganz anders aus. Dies sollten wir berücksichtigen, wenn wir über sogenannte "Grenzen unserer Belastbarkeit" sprechen.

Leben wir im (Un)Frieden? Nein, wir leben nicht im Unfrieden.

Ich meine jetzt aber noch etwas anderes als den eben behaupteten Unterschied. Ich meine die vielen alltäglichen Wunder der kleinen Güte. Praktischer Humanismus im Alltag. Ohne ihn wäre nicht einmal das banale "dem anderen die Tür aufhalten anstatt sie ihm vor den Latz zu knallen" möglich. In Judith Hermanns Kurzgeschichte mit dem vielsagenden Titel "Kohlen" hat Vincent, ein vier-oder fünfjähriger Junge seine Mutter verloren: Sie sei, so heißt es, "an gebrochenem Herzen" gestorben. Es geht in der Geschichte aber nicht so sehr darum, dass man an der Liebe sogar sterben kann. Wenngleich das natürlich auch schon viel besagt über das, was zwischen Menschen möglich ist. Geschildert wird vor allem eine kleine alltägliche, fast unscheinbare, Begebenheit. Vincent radelt alleine und etwas unmotiviert auf der Straße herum. Zwei Nachbarinnen rufen ihm zu, sie hätten schon auf ihn gewartet. Schnell lassen sie ihre Kindersprache sein, als sie merken, dass Vincent dafür schon viel zu erwachsen geworden ist. Vor dem Haus der Nachbarinnen liegt ein Riesenberg Kohlen. Die beiden Frauen reichen mit Vincent die Kohlestücke von Hand zu Hand bis der Berg abgeräumt und im Keller verstaut ist.

Es ist dieser "Wärmestrom" der Kohlen, den wir in unserem Alltag durchaus nicht selten praktizieren. Die ganz alltägliche kleine Güte: dass auch der andere zählt. Auch wenn wir geneigt sind, diese schnell zu übersehen, und auch wenn wir sie sicherlich noch weiter kultivieren können.

Vielen Dank.

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Prof. Dr. Ralf Schöppner
Geschäftsführer