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„Stiefkind Religions- und Weltanschauungspolitik“

Die Nachrichten aus den Wissenschaften sind eindeutig: Seit Jahren vernachlässigt die deutsche Politik die Religions- und Weltanschauungspolitik. Auf den dringenden Reflexions- und Handlungsbedarf verweisen aktuell einmal mehr zwei neue Publikationen.

Die Bundeszentrale für politische Bildung bringt im neuen Heft 28-29/2018 ihrer Zeitschrift APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) ein Thema, das vom Münsteraner Politikwissenschaftler Ulrich Willems im Heft als "Stiefkind" bezeichnet wird: "Religionspolitik". Nach Willems ist deutlich, "dass die beiden Großparteien, die die Regierungen sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene dominieren, keine grundlegenden religionspolitischen Herausforderungen sehen" (S. 12). Dass es ebensolche aber ganz offensichtlich gibt, wird nicht nur durch die Themenwahl der Bundeszentrale dokumentiert, sondern zeigt sich vor allem auch in den insgesamt sieben lesenswerten Aufsätzen. Der Leipziger Religionswissenschaftler Gerd Pickel fasst die schon lange politisch vernachlässigte Herausforderung prägnant in den Begriffen Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung zusammen (S. 22).

Wenngleich auch im Sinne von Sachlage und Grundgesetz "Religions- und Weltanschauungspolitik" sicherlich der angemessenere Titel des Heftes gewesen wäre, so blenden doch – wie sonst oftmals üblich – keineswegs alle Autor/Innen die Perspektive "Weltanschauung" und "Konfessionsfreie" komplett aus. Für den Göttinger Kirchenrechtler Hans Michael Heinig hängt sogar die Zukunft der Integrationskraft des deutschen Religionsverfassungsrechtes u.a. davon ab, "ob ein nachhaltiger Interessensausgleich zwischen säkular und religiös gesonnenen Bürgerinnen und Bürgern gelingt" (S. 21). Noch etwas konsequenter gelingt es Willems, die Belange der Konfessionsfreien ­­­­– trotz der Heterogenität dieser Gruppe – systematisch in seine Überlegungen zu integrieren. Ein Problem sieht er vor allem im Vorrang nicht-öffentlicher und damit zumeist kirchlicher Träger in der Wohlfahrtspflege, wodurch den nicht religiösen Menschen kein "ausreichendes religiös- bzw. weltanschaulich neutrales Angebot zur Verfügung steht" (S. 10).     

Ebenfalls gerade erschienen ist im Herder-Verlag der Band "Religionspolitik heute", herausgegeben von Daniel Gerstner, Viola van Melis und Ulrich Willems. Das Buch versammelt insgesamt 32 Aufsätze zur Geschichte und den Merkmalen deutscher Religionspolitik, zu religionspolitischen Diskussionsfeldern und aktuellen religionspolitischen Konflikten. Außerdem kommen ausführlich religionspolitische Akteure der Parteien sowie von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu Wort. Das säkulare Spektrum ist durch Beiträge von Michael C. Bauer und Michael Schmidt-Salomon vertreten. Eine Rezension des Bandes ist demnächst auf humanismus aktuell zu lesen.  

Man kann nur hoffen, dass diese Veröffentlichungen ihren kleinen Teil dazu beitragen können, dass Politik und Verwaltung die Umwälzungen der religiös-weltanschaulichen Landschaft der Bundesrepublik und die Notwendigkeit religionspolitischer Reformen stärker zur Kenntnis nehmen. Oder sollte es dabeibleiben, dass die Herausforderungen des religiös-weltanschaulichen Pluralismus vornehmlich im Islam und dort auch nur in der Extremismusprävention gesehen werden?

Ralf Schöppner

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