Stiefkind Religions- und Weltanschauungspolitik
100 Jahre Trennung von Staat und Kirche in Deutschland – Visionen für das nächste Jahrhundert: Eine Tagung von Friedrich-Ebert-Stiftung und Humanistischer Akademie am 23. Oktober 2019 in Berlin
Die Nachrichten aus den Sozialwissenschaften sind eindeutig: Seit Jahren vernachlässigt die deutsche Politik die Religions- und Weltanschauungspolitik. Und so waren sich auch die annähernd 100 Gäste und die sieben Referentinnen und Referenten zumindest darüber einig: Die Diskussion um eine zukunftsfähige Religions- und Weltanschauungspolitik muss raus aus dem Saal und endlich öffentlich und breit geführt werden.
Die Grußworte von Jan Niklas Engels und Ralf Schöppner:
Den ersten Teil der Veranstaltung – Gleichbehandlung statt Kirchenförmigkeit – eröffnete Jacqueline Neumann, Verwaltungsjuristin und Mitglied im Direktorium des von ihr mitbegründeten Instituts für Weltanschauungsrecht. In historischer und juristischer Perspektive arbeitete sie die vier Grundpfeiler des von ihr explizit so benannten "Weltanschauungsrechts" heraus: Trennung, Neutralität, Gleichheit, Freiheit. Zwar sei das deutsche Staatskirchenrecht organisationsrechtlich auf die christlichen Kirchen zugeschnitten, doch die Einforderung einer "Verkirchlichung" anderer religiöser oder nichtreligiöser Weltanschauungsgemeinschaften unzulässig. Sie zeigte anhand der Beispiele des staatlichen Kirchensteuereinzugs und des religiösen schulischen Bekenntnisunterrichts, dass der verfassungsrechtlich gebotene Trennungsgrundsatz in der Verfassungswirklichkeit nur sehr unzureichend verwirklicht sei. Für die Zukunft gäbe es zwei Optionen: Entweder man weite die bestehenden Religionsprivilegien auf andere Weltanschauungsgemeinschaften aus oder aber man baue diese im Rahmen einer konsequent säkularen Politik ab.
Impuls Jaqueline Neumann:
Eine Alternative, die der zweite Redner, Frieder O. Wolf, Honorarprofessor am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin und Präsident der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg, so nicht gelten lassen wollte. Stattdessen wäre zu unterscheiden zwischen ungerechtfertigten Privilegien wie z.B. dem staatlichen Kirchensteuereinzug, der abzuschaffen sei, und wichtigen öffentlichen Aufgaben wie z.B. Bildung und gesellschaftlicher Dialog, die im Rahmen eines "kooperativen Laizismus" von anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften übernommen werden sollten. Das vorhandene Religions- und Weltanschauungsrecht biete ausreichend Potential für eine Weiterentwicklung im Sinne "inklusiver Gleichbehandlung". Das gelte sogar noch für die religionsgeschichtliche Sonderform "Körperschaft des öffentlichen Rechts": KdöR ohne Kirchenform sei möglich. Humanistische Weltanschauungsgemeinschaften müssten beharren auf einem offenen Selbstverständnis anstelle eines geschlossenen Bekenntnisses sowie auf gesellschaftlicher Verankerung anstelle von formaler Mitgliedschaft als Ausweis ihrer Relevanz und Förderwürdigkeit.
Impuls Frieder Otto Wolf:
Im zweiten Teil der Veranstaltung wurde konkreter weitergefragt: Wie lässt sich die Gleichbehandlung der verschiedenen Weltanschauungen und Religionen politisch verwirklichen? Der Münsteraner Politikwissenschaftler Ulrich Willems, der die Formulierung vom "Stiefkind Religions- und Weltanschauungspolitik" geprägt hat, bot zunächst einige wichtige Differenzierungen zum Begriff der "Gleichbehandlung" an, der weniger eindeutig sei als angenommen. Reformbedarf diagnostizierte er vor allem in Hinblick auf die Integration der Muslime durch symbolische Anerkennung und auf den Wohlfahrtssektor, in dem es in weiten Teilen Deutschlands kein ausreichendes nichtreligiöses Angebot gäbe. Reformhindernisse sah er vor allem im gravierenden Mangel an politischen Willen der meisten politischen Parteien sowie auch in einer fehlenden starken Interessensvertretung der Konfessionsfreien. Diese heterogenen 40% der Bevölkerung lassen sich kaum organisieren, so Willems.
Vortrag Ulrich Willems:
Auf dem nachfolgenden Podium zeigte Willems sich erstaunt darüber, dass es in Berlin bei über 65.000 Schülerinnen und Schüler in humanistischer Lebenskunde keine universitäre Ausbildung ihrer Lehrkräfte gebe. Das sei eigentlich unentbehrlich. Vorab hatte Bruno Osuch vom Humanistischen Verband Berlin Brandenburg sowohl dessen vielfältiges Angebot für Humanist/innen und Konfessionsfreie in der Hauptstadt dargestellt als auch auf verschiedene Gleichbehandlungsdefizite selbst in einer Stadt mit über 60% Konfessionsfreien hingewiesen. Die Einrichtung einer Humanistischen Hochschule sei überfällig. Wichtig war Osuch bei alldem die Unterscheidung, dass Humanist/innen sich keineswegs als antireligiös, sondern schlichtweg als nichtreligiös verstehen würden. Auch verstehe sich der Humanistische Verband nicht als Repräsentant der heterogenen Gesamtgruppe der Konfessionsfreien, wohl aber als Advokat mindestens der Humanistinnen und Humanisten unter ihnen.
Dr. Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin, hob hervor, dass muslimische Wohlfahrtsorganisationen sich im Wohlfahrtssektor durchaus ungleich behandelt fühlten von der deutschen Politik. Sie warb vor allem für eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Bedeutung von Gemeinschaften, wobei Humanismus als ein grundlegender Konsens dienen könne: "Man muss diese Diskussion hier aus dem Saal tragen." Auch dürfte nur wenigen bekannt sein, dass es einen Mangel an humanistischen Seelsorgern in deutschen Krankenhäusern gebe, so Reiner Waldukat, Patientenfürsprecher des Unfallkrankenhauses Berlin. Immer wieder kämen Patientinnen und Patienten, die ausdrücklich nicht mit einem religiösen Seelsorger sprechen wollten. Das sei ein Bedarf, den er als ehrenamtlicher Patientenfürsprecher gar nicht abdecken könne. Und wenn man erst mal im Sinne von Gleichbehandlung ordnungsgemäß humanistische Seelsorge anbieten würden, dann kämen noch viel mehr Menschen.
Arne Lietz, Mitglied im Bundesvorstand des Arbeitskreises Christinnen und Christen in der SPD, betonte den für ihn wichtigen Unterschied zwischen einem strikten Laizismus und dem weltanschaulichen Humanismus, der den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften eine förderwürdige öffentliche Bedeutung zugesteht, z.B. durch deren wertevermittelnde Unterrichtsfächer. Aus dem Publikum wurde er von Mitgliedern des Netzwerkes Säkularer Sozialdemokrat_innen wiederholt kritisch auf den Umstand angesprochen, dass es in einer Partei wie der SPD keinen vom Parteivorstand offiziell anerkannten Arbeitskreis Säkulare oder Humanisten in der SPD gibt. Lietz zeigte sich skeptisch, wünschte einem solchen Anliegen aber zumindest "Glück auf".
Die vollständige Podiumsdiskussion:
Einige Gäste bemängelten in der Abschlussdiskussion, dass das Thema "Ablösung der historischen Staatsleistungen" in der Veranstaltung nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe. Andere entgegneten, das hier aufgespannte Thema habe doch eine viel größere Dimension als nur diese Frage. Insgesamt hörte man an diesem Tag vielfach den Wunsch nach einer breiten öffentlichen Debatte zur Neuaufstellung der Religions- und Weltanschauungspolitik in Deutschland sowie die Einschätzung, dass bei aller Kontroverse sowohl unter Nichtreligiösen wie auch zwischen Religiösen und Nichtreligiösen doch anscheinend eine sachliche und wechselseitig wertschätzende Debatte möglich ist.
Kristin Brachhaus
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Die Tagung wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert.