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Rückblick: Erasmus. Humanist, nicht Nationalist

Bild: Holbein via commons.wikimedia.org

 

Die seit 2017 im deutschen Bundestag vertretene Partei Alternative für Deutschland hat 2018 die Desiderius-Erasmus-Stiftung als ihre parteinahe Bundesstiftung anerkannt. Damit setzt sie die auch schon vorher mit Landesstiftungen praktizierte Strategie fort, sich mit dem Namen des niederländischen Renaissance-Humanisten Erasmus von Rotterdam (1466-1536) zu schmücken.

Aus diesem Anlass haben wir auf unserer Fachtagung in zwei Richtungen gefragt:

Erstens nach der hier einmal mehr zum Ausdruck kommenden spezifischen Geschichtspolitik der AfD und ihrer strategischen Bezugnahme auf Elemente der europäischen Geistesgeschichte. Wie sind die eingenommenen Perspektiven auf die deutsche Geschichte einerseits und die christliche Ethik andererseits zu bewerten? Sind diese historischen und konzeptuellen Bezugnahmen sachlich fundiert oder instrumentell, selektiv und gar tendenziös?

Zweitens nach Person, Werk und Wirken des Erasmus von Rotterdam und insbesondere seines Verständnisses von Humanismus. Welche Form des Politischen und was für ein Europa schwebte ihm vor? Wie sah er das Verhältnis von Universalsprache und europäischen Nationalsprachen? In welchem gesamteuropäischen Denkkontext – Morus, Vives, Colet – steht dieser Humanismus? Gibt es "christlichen Judenhass" in seinem Werk?

Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Gideon Botsch vom Moses Mendelssohn Zentrum der Universität Potsdam stellte eingangs klar, die AfD betreibe gar keine aktive Geschichtspolitik im eigentlichen Sinne. Die Wahl von Erasmus als Namenspatron ihrer politischen Stiftung sei nicht das Ergebnis einer versierten inhaltlichen Ausrichtung, sondern eine rein taktische Wahl im Kontext allgemeiner Strategien der Überwältigung, Verblüffung, Verzahnung und Vereinnahmung; insbesondere gehe es um das Anliegen, Helden und Symbole streitig zu machen. Die damit verbundene Selektivität veranschaulichte Botsch an einem Beispiel aus dem Grundsatzprogramm der Partei: Abgesehen von der erwartbaren Verweigerung einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sei auffällig, dass in der Bezugnahme auf "deutsche" Revolutionen zwar 1848 und 1989 genannt würden, nicht aber der 1918er Republikanismus. Mit Blick auf Äußerungen von Vertretern des rechtsextremen Flügels der Partei, z.B. über den "tief verankerten Humanismus im deutschen Volk", konstatierte Botsch, dass es sich hier allenfalls um einen nationalistischen "deutschen Humanismus" handele und es der AfD in Zukunft schwerfallen werde, den Anschein einer "bürgerlichen Partei" aufrechtzuerhalten.

Das Institut für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster sowie das Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft in München hatten im Juni 2017 der Öffentlichkeit die Vergleichsstudie Grundpositionen der Partei "Alternative für Deutschland" und der katholischen Soziallehre im Vergleich - eine sozialethische Perspektive präsentiert. Die Studie hatte für etwas Aufregung gesorgt, weil sie zwar zeigte, dass es zwischen den Positionen der AfD und der katholischen Soziallehre massive Differenzen gibt, ohne dass sich doch bei bestimmten Themen wie z.B. "Gender" Nähen vollständig bestreiten ließen. Dr. Maren Behrensen von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, eine der Autorinnen der Studie, verwies in ihrem Vortrag auf die Aufnahme von Themen durch die AfD, die auch vielen Christinnen und Christen wichtig sind, und die gerade auch von der katholischen Kirche betont werden: Familie, Lebensschutz und sogenannte "Gender-Ideologie". Im Detail offenbarten sich dann allerdings schnell deutliche Differenzen, z. B. weil etwa die von der AfD geforderte Verschärfung des Abtreibungsrechts nicht genuin moralisch motiviert sei, sondern im Kontext einer Bevölkerungspolitik stehe, die auf mehr "deutsche" Kinder anstelle von Migration ziele. Behrensen zeigte auch, wie die Partei sich gerne in schlichten Frontstellungen positioniert und gefällt: als Vertretung "echter Christen" gegenüber der "Amtskirche", als Garantin "humanistischer Bildung" gegenüber den Gender-Studies; als "Homonationalisten" gegen Muslime (in einer Wahlwerbung wurde ein schwules Paar für die Angst vor Muslimen instrumentalisiert). In sachlicher Hinsicht, so ein Fazit, sei weder die Bezugnahme der Partei auf humanistische Denker der frühen Neuzeit noch auf christliche Werte plausibel zu machen.  

Im weiteren Verlauf der Tagung wurde dann wie angekündigt der Schwerpunkt in Richtung auf das Werk von Erasmus von Rotterdam verlagert. Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Enno Rudolph, Autor des in diesem Jahr erschienenen Buchs "Der Europäer Erasmus von Rotterdam. Ein Humanismus ohne Grenzen", stellte den Gästen in seinem Vortrag gleichen Titels Erasmus als einen eminent politischen Denker vor. Erasmus sei wahrscheinlich der erst republikanische Denker gewesen, der die res publica konsequent auf Europa bezogen habe, mit dem Ziel eines Maximums sowohl an individueller Freiheit als auch an Gemeinwohlorientierung. Anstelle der bekannten rechtspopulistischen Rede von einem "Europa der Vaterländer" fuße dieses Denken auf der universellen Gleichheit aller Menschen, Erasmus‘ Humanismus sei ein kultureller Pluralismus und kein Plädoyer für nationale Monokulturen. Ausgehend von Erasmus‘ Verständnis von Politik als Etablierung eines dauerhaften Friedens im Inneren wie nach Außen hob Rudolph insbesondere dessen Pazifismus hervor, der nicht zuletzt auch seinen Ausdruck finde in einem pädagogischen Optimismus und in Vorstellungen zu einer friedensstrategischen Bildungspolitik. Anders als Luther und auch anders als so manche politische Lautsprecher heute, sei Erasmus jemand gewesen, der stets diplomatisch für Ausgleich votiert und keineswegs polarisiert habe. Dazu gehöre seine ausgeprägte Skepsis in Bezug auf allzu geschlossene Weltanschauungen, seine Abneigung gegenüber anmaßenden und einseitigen Behauptungen sowie sein Wille, sich von keiner Doktrin und keiner parteilichen Position in Politik und Religion vereinnahmen zu lassen. Damit war natürlich eine ganze Menge zur zentralen Frage der Tagung gesagt.

Der Nachmittag stand dann zunächst im Zeichen der Erasmus-Philologie. Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik hatte 2018 in der Berliner Tageszeitung taz nicht ohne Polemik suggeriert, womöglich sei Erasmus doch der passende Namenspatron für eine Partei wie die AfD und hatte dies mit Erasmus vorgeblichen "Judenhass" begründet. Daran anknüpfend unterzog die Klassische Philologin und Religionshistorikerin Dr. Hildegard Cancik-Lindemaier sich und das Publikum dem Exerzitium einer notwendigen und differenzierten Analyse der für diesen durchaus verbreiteten Vorwurf an Erasmus zumeist herangezogenen Textpassagen. In ihrem Vortrag "Erasmus von Rotterdam und der christliche ‚Judenhass‘ – ein Überblick" gelangte sie zu dem Schluss, dass von einem Judenhass im Sinne einer psychologischen Disposition bei Erasmus keine Rede sein kann. Am Text selbst demonstrierte sie subtil die Tücken einer vereinfachenden und ungenauen Erasmus-Lektüre, der auch Brumlik zum Opfer gefallen sei. Erasmus habe nicht gegen die Juden gekämpft, sondern gegen den "Judaismus" als Gesetzes- und Zeremonien-Religion. Einen "Judaismus", den er auch im zeitgenössischen Christentum selbst fand, vor allem in den gängigen Praktiken des Mönchtums, dem Gegenbild seines Ideals eines vergeistigten Christentums. In den Gründungsschriften des Christentums ist die Absage an die "Gesetzesreligion" der Juden eingeschrieben, so Cancik-Lindemaier. Den Vorwurf des "Judaisierens", eines Kampfbegriffs aus der Frühzeit des Christentums, habe noch die Inquisition im 16. Jahrhundert als Disziplinierungsinstrument genutzt. Im Gegensatz zu anderen Humanisten, wie etwa Reuchlin, der die "Weisheit der Hebräer" mit der "Weisheit der Griechen und Römer" verbinden wollte, sei Erasmus ein Klassizist gewesen. Er interessierte sich nicht für eine "hebräische Renaissance" und behandelte sie mit oberflächlicher Geringschätzung. Anders als Luther aber habe er nicht gegen die Juden geschrieben noch zur Gewalt gegen sie aufgerufen. 

Die kontroverse Diskussion drehte sich dann um die Frage, welchen Stellenwert man diesen Unterscheidungen heute geben wolle, denn im Hinblick auf die Gesamtgeschichte von Antijudaismus und Antisemitismus sei jede Form von Relativierung unangebracht. Die Referentin hielt dagegen, dass womöglich gerade der Verzicht auf eine solche Differenzierung bei Erasmus dem Anliegen christlicher Geschichtsschreibung entgegenkomme, sich selbst und insbesondere Luther zu entlasten, indem man feststelle, dass ja alle und sogar Humanisten damals Judenhasser gewesen wären.        

Der anschließende Vortrag von Prof. Dr. Hubert Cancik, Klassischer Philologe und Religionshistoriker, lautete: "Muttersprache – Vatersprache. Über Spannungen zwischen Universalsprache und europäischen Nationalsprachen im Werke des Erasmus". Er arbeitete heraus, inwiefern Erasmus ein "entschiedener Kosmopolit" gewesen sei. So habe Erasmus nicht in seiner Muttersprache, dem Holländischen, geschrieben, sondern sich vornehmlich in der Universalsprache seiner Epoche, dem Latein, verständigt. Auch sei sein Leben von einer enormen Reisetätigkeit durch Europa geprägt gewesen, mit der offen ausgesprochenen Überzeugung von der Welt als gemeinsamem Vaterland aller Menschen, die ihn auch dazu bewogen habe, auf das ihm von Zwingli angebotene Züricher Bürgerrecht zu verzichten. Mit seiner "Monopolisierung von Latein" und einer gewissen "Geringschätzung von Nation und Volkssprache" habe er unter den Humanisten seiner Zeit, die sonst eher mehrsprachig waren und das neue "Nationsdenken" durchaus förderten, eine Sonderstellung eingenommen. Dennoch aber, so Cancik, begrüßte Erasmus sowohl die Übersetzung seiner Schriften in die Volkssprachen wie auch die Verbreitung der Bibel in diesen: Sie sollten für alle Volksschichten erreichbar sein, auch soziale Grenzen sollte es nicht geben. Hervorgehoben wurde im Vortrag weiter, dass Erasmus durch seine Auseinandersetzung mit antiker Moralistik und ethischer Reflexion – Übersetzungen, Erläuterungen, Verbreitung, Weiterführung – diese erst für eine europäische Leserschaft aufgeschlossen habe. Kritisch merkte Cancik an, Erasmus habe wohl nicht danach gefragt, ob seine Distanz zum Nationalen und Regionalen, die er seinem Stand der Forscher und Gelehrten zuschrieb, auch in anderen Volksschichten geteilt wird.

Der Abschlussredner der Tagung, Prof. Dr. Frieder Otto Wolf, Philosoph und Politikwissenschaftler, ging in dialogischer Absicht zunächst auf einige der vorher diskutierten Themen ein. In Hinblick auf die Frage nach der Unterscheidung zwischen dem Politikverständnis der AfD und demjenigen von Erasmus akzentuierte er besonders das für Erasmus zentrale Prinzip der gleichen Freiheit aller anstelle der "Freiheit für Deutsche". Bei Erasmus sei auch keine Geschichtsphilosophie zu finden, sondern der Gedanke, dass man beispielhaft aus der Geschichte lernen könne und solle. Schon angelegt sei bei ihm auch eine gewisse Relativierung des Konzeptes von "Autorschaft", insofern bei ihm weniger eine eigene Doktrin als vielmehr situatives Agieren im Vordergrund stünde; was sich insbesondere in seiner offensichtlichen Weigerung ausdrückte, sich zur Projektion oder Spekulation verleiten lassen, nur um den Eindruck von wissender Autorschaft beibehalten zu können. In seinen Ausführungen "Das europäische Viergestirn des Humanismus: Erasmus, Morus, Vives, Colet" verwies Wolf neben den vielen inhaltlichen Übereinstimmungen der Genannten vor allem darauf, dass z.B. die Beziehung von Erasmus zu den anderen Dreien philologisch allein nicht zu verstehen sei. So hätten Morus und Colet anders als Erasmus auch eine politische Rolle gehabt, womit der gesamte Kontext der "kapitalistischen Produktionsentwicklung" und der besonderen Spezifik des englischen Agrarhandels aufgerufen sei. "London ist auch für Erasmus ein zentraler Ort gewesen", so resümierte Wolf.

Die Tagung erbrachte somit wichtige Aufschlüsse über beide eingangs aufgeworfenen Fragerichtungen und lieferte Publikum wie Vortragenden reichlich Anlass für kontroverse Debatten und anhaltendes Interesse an politischer Aufklärung und historisch genauer Analyse. Als wichtigste Antworten und Perspektiven können festgehalten werden:

  • Es gibt bei der AfD keine aktive Geschichtspolitik im eigentlichen Sinne, sondern rhetorische Strategien der Überwältigung, Verblüffung, Verzahnung und Vereinnahmung.
  • Der Name Erasmus steht für einen moralischen und politischen Universalismus sowie ein republikanisches Europa aller seiner Bürgerinnen und Bürger.
  • Erasmus‘ Denken eignet sich nicht zur ideologischen Vereinnahmung durch politische und weltanschauliche Positionen, es warnt vielmehr vor solchen partikularistischen Vereinnahmungen.
  • Primär sollte in einer Auseinandersetzung mit Erasmus nicht nach der notwendigen Abgrenzung zur AfD gefragt werden, sondern nach vorhandenen Aktualisierungspotentialen für die heutige Entwicklung humaner Zukunftsperspektiven.

Die Vorträge der Tagung werden in erweiterter Form und zusammen mit den Diskussionsergebnissen im Frühjahr 2020 als Band 7 der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland veröffentlicht. Vorbestellungen sind hier möglich.  

Ralf Schöppner

 

Wir danken für die Unterstützung der Tagung durch die Bundeszentrale für politische Bildung und die Humanistische Akademie Deutschland.  

 

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