Herr Vorsitzender, Frau Staatsanwältin, meine Damen und Herren
Ein Gedanke vorweg: In meiner Situation hier vor Gericht ist es notwendig, sachliche Gesichtspunkte zu erörtern. Wesentlich in meiner Begegnung mit Frau M. und Frau W. war jedoch etwas Anderes: Wenn man anderen Menschen mit völlig selbstverständlichem Respekt für ihre Gedanken, Sorgen und Überlegungen begegnet, dann ergibt sich wie von selbst und wie von Frau M. und Frau W. in ihrem Brief aus Timmendorfer Strand zum Ausdruck gebracht, eine mitmenschliche Begegnung, eine Offenheit, ein Vertrauen und ein wechselseitiges Wohlwollen, wie sie in dieser Welt nicht immer und nicht überall möglich sind. …
Daneben sind sich ja wohl alle Beteiligten zugleich darüber im Klaren, dass es hier eigentlich um eine grundsätzlichere Frage geht, nämlich: Welche Bedingungen soll oder darf das Recht einem Menschen und einem zur Beihilfe bereiten Helfer aufzwingen, ehe eine professionelle und mitmenschliche Hilfe eines Anderen zu einem Suizid in Anspruch genommen werden darf?
Zum Ende meines 55-jährigen beruflichen Lebens als Arzt bedeutet diese Frage ein Anliegen. … Von den Begegnungen mit den Menschen, die sich mir anvertraut haben, die mir ihre ernsthaften, fast immer langjährigen Überlegungen vorgetragen und begründet haben, bin ich auf diesen Weg gebracht worden. Deshalb habe ich mich zugleich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen den neuen § 217 StGB an das BVerfG gewandt.
Zu meiner Biographie
Auch wenn mein Vater in unseren Gesprächen gegen Ende seines 100-jährigen Lebens … in diesem Punkt mit mir NICHT gleicher Meinung war, sind die Ernsthaftigkeit und Nachdrücklichkeit seines Denkens bis heute für mich prägend. … Er ist 1931 nach Bethel in die Diakonenausbildung gegangen … und hat in späteren Jahren als Gemeindepastor in Bielefeld arbeiten dürfen. Seine Arbeit mit Behinderten hat auch mich bereits als Schüler und in meinen ersten Berufsjahren als Arzt in die fürsorgliche Arbeit mit Behinderten und Schwerstbehinderten eingeführt. …
In meiner insgesamt 35-jährigen klinisch ärztlichen Tätigkeit, zuletzt 21 Jahre in der universitären Neurologie habe ich bei hochgradigen Lähmungskrankheiten sowohl Entscheidungen über eine Beatmungsbeendigung mit Versterbensfolge als auch – im Vorherwissen möglicher Folgezustände – Wiederbeatmungsentscheidungen mit Überlebensfolge treffen müssen. Mehrere Jahre später hat die fast total gelähmte aber bewusstseinsklare Patientin im Altenpflegeheim auf meine Frage hin die Weiterernährung mit zweifellos absichtsvoller Kopfdrehung zur Seite für alle Beteiligten eindeutig abgelehnt. Die gesetzliche Betreuerin hat ihre Zustimmung entsetzt verweigert. Auf meine Anfrage hin hat der Vormundschaftsrichter eine Änderung der Betreuung nicht ermöglicht. Weil meine Frage in dem Heim Verunsicherung ausgelöst hat, habe ich keine weiteren Besuche unternommen. Wie lange die ursprünglich von mir wiederbeatmete und so in diese Behinderung hineintherapierte Patientin hat weiterleben müssen, weiß ich nicht.
Dieses und ähnliche Erlebnisse haben mich zu einer intensiven Beschäftigung mit der Medizin-Ethik, zur Teilnahme an der damaligen Arbeitsgemeinschaft zu Ethik-Begründungen in der Akademie für Ethik in der Medizin geradezu getrieben. Immer hat mich dabei die Frage des Verhältnisses der lebensschützenden Fürsorge gegenüber dem Respekt für den Selbstbestimmungswillen des Patienten beschäftigt. …
Zu meiner Entwicklung in der Suizid-Beihilfe
Schon in der Zeit meiner klinischen Tätigkeit hat es bei entsprechenden neurologischen Grundkrankheiten Anfragen mit dem Wunsch nach Hilfe zu einer Lebensbeendigung gegeben. Ich erinnere mich, dass ich das Medienecho auf die Suizid-Beihilfe von Prof. Hackethal bei Frau Hermy Eckert (1984) mitbekommen und mich gedanklich zwiespältig damit befasst habe.
Danach habe ich zwei persönliche Schlüssel-Erlebnisse gehabt. Im Jahr 2000 hat mich eine seit ihrem 5. Lebensjahr fortschreitend und in ihrem 43. Lebensjahr sehr weitgehend gelähmte, in der Familie ihres Bruders gepflegte Frau, Isolde S., mit der Bitte um Beihilfe kontaktiert. Diese für mich unvermittelte persönliche Bitte habe ich zuerst erschrocken abgelehnt, mich auf erneute Bitte ein Jahr später jedoch zu vielen Besuchen über mehr als ein Jahr bewegen lassen. Isolde S. konnte noch mühsam telefonieren und eine Fahrt zu einem Suizid zu Dignitas in die Schweiz organisieren. …
In grundsätzlichen Gesprächen habe ich dort bei Dignitas [und später auch bei SterbehilfeDeutschland] eine Übereinstimmung im Anliegen und in den Vorstellungen zu einem sachgerechten Verfahren gefunden. Bei Suizidassistenz-Wunsch habe ich für Mitglieder von Dignitas seit 2003 und … SterbehilfeDeutschland seit 2008 psychiatrische Gutachten zur Frage der "Wohlerwogenheit" erstellt …
In meiner klinischen ärztlichen Tätigkeit habe ich wissenschaftlich u.a. zur Frage des Patientenwillens seit 1997, zu Fragen der Therapiebegrenzung und -beendigung seit 2000 publiziert und seit 2004 insgesamt 24 Publikationen zur Beihilfe zu einem Suizid. …
Zur Frage meines persönlichen Vorteils oder Interessen
Weil dies in der öffentlichen Diskussion … angesprochen worden ist, möchte ich zu der Frage persönlicher Vorteile und meiner Motivation für mein Handeln in der Suizid-Begleitung Stellung nehmen. In ihrer Anklageschrift hat die Staatsanwaltschaft versucht, mir eine persönliche Vorteilsorientierung … zu unterstellen … Dieser Vorwurf ist auch vom H OLG in seine Erwägungen mit einbezogen worden, ich zitiere: "…kommerzielle – hier sogar eigennützig motivierte politische Interessen …". Ich weise diese Unterstellung nachdrücklich zurück. …
Ich bitte das hohe Gericht um eine ebenfalls wohl zu erwägende Entscheidung, ich habe vertraut und vertraue auf die im Jahr 2012 geltende Rechtsprechung zur Geltung einer hinreichend eindeutigen Patientenverfügung und verstehe mein Handeln als mitmenschliche Begleitung im Respekt für Frau M. und Frau W. existenzielle Entscheidung, für ihr eigenes Handeln und ihren bindenden Willen. …
Dr. med. Johann Friedrich Spittler, Hamburg, den 3.11.2017