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Eindrücke von einer Tagung der Humanistischen Akademien zum Entwurf eines neuen humanistischen Selbstverständnisses

Am 27. Februar 2016 diskutierten auf Einladung der Humanistischen Akademien und des Berlin-Brandenburgischen Landesverbandes des HVD etwa 40 Gäste den vorliegenden Entwurf für ein neues Humanistisches Selbstverständnis. Grundtenor in den Räumen der Humanistischen Fachschule für Sozialpädagogik: Der Text bietet allerhand Stoff für spannende und kontroverse Auseinandersetzungen, es gibt grundsätzliche Zustimmung bei gleichzeitigem Diskussionsbedarf in Einzelfragen.

Am Vormittag gab es 5 Impulsreferate zu bekannten strittigen Fragen, die sowohl ihr jeweiliges Thema grundsätzlich behandelten als auch direkt auf den vorliegenden Text Bezug nahmen.

Trennschärfe

Horst Junginger, Religionswissenschaftler an der Universität Leipzig, beantwortete die ihm gestellte Frage "Humanismus und Religion – Eine Opposition?" mit einem klaren "Ja und Nein". Die Abgrenzung zur Religion eigne sich zur Herstellung von Trennschärfe in einem humanistischen Selbstverständnis eher nicht, weil zum einen das religiöse Feld heterogen und starkem historischem Wandel unterworfen sei, zum anderen "Religionen selbstverständlich Anteil am Humanismus und seiner Weiterentwicklung haben". Für die humanistische Profilierung verwies Junginger stattdessen auf spezifische Forschungs- und Entwicklungsbedarfe bei den nichtkognitiven Aspekten säkularer Lebensführung, der besonderen Qualität nicht-religiöser Kunst, Literatur und Musik, bei der weltlichen Feiergestaltung sowie zeitgemäßen Formen humanistischer Vergemeinschaftung. Für Europa liege die Möglichkeit einer weltanschaulichen Gemeinsamkeit eher im Humanismus als in der Religion, die ja letztendlich auch auf der Autonomie menschlicher Normsetzung fuße. So dürfe sich ein humanistisches Selbstverständnis durchaus noch selbstbewusster geben und auch noch deutlicher nach Außen für ein Mitmachen werben. 

Wissenschaft und Weltanschauung

Gerhard Engel, Präsident der Humanistischen Akademie Bayern und Mitherausgeber der Zeitschrift Aufklärung und Kritik, warb für wechselseitige Lernprozesse von Wissenschaften und Humanismus. Von den Naturwissenschaften könne man das methodische Vorgehen – "Erkenntnisfortschritt durch Kritik und Innovation" – lernen, von den Sozial- und Geisteswissenschaften die "Einbeziehung des Anderen" und die "Entdeckung neuer Wirk-lichkeitsebenen". Wissenschaftliches Vorgehen eigne sich zum Unterlaufen von Dogmatik, ohne doch selbst einen Religionsersatz bereitzustellen. Die Sozial- und Geisteswissenschaften ermöglichten die "Überwindung eines halbierten Darwinismus".

Frieder O. Wolf, Philosoph und Präsident der Humanistischen Akademie Deutschland, referierte die vielgestaltige und politisch brisante Geschichte des deutschen Weltanschauungsbegriffs. Dabei vermied er es, den Begriff als historisch "verbrannt" ad acta zu legen und nannte einige Kriterien für eine sinnvolle Nutzung. Zum Teil auch entgegen des Wortsinnes seien insbesondere zu betonen ein deutlicher Praxisbezug, dialogische  Offenheit und Geschichtlichkeit. Humanismus als Weltanschauung sei mehr als Humanität, weil es um einen Bezug auf das Ganze des menschlichen Lebens gehe, um die Frage eines sinnvollen und guten Lebens überhaupt. Dabei spiele die Durchsetzung von Menschenrechten eine entscheidende Rolle und dort verlaufe auch die Trennlinie zwischen religiösen Humanismen und nicht-humanistischer Religion.  

Gender und aktiver Pluralismus

Helen Weinbach, Professorin an der Hochschule Rhein-Waal und Mitglied im NRW-Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung, kritisierte das name-dropping im Entwurf (Kant und Co.) und ließ es sich nicht nehmen, sowohl die "patriarchalischen" Frauenbilder einiger der dort genannten Philosophen und Wissenschaftlern herauszustellen als auch überhaupt den Bezug auf Autoritäten zu hinterfragen. Auch der im Text-Entwurf durchaus versuchte Einbezug von Humanistinnen sei misslungen. Noch grundsätzlicher äußerte sie den Eindruck, dass in atheistischen und insbesondere evolutionsbiologischen Kreisen ein merkwürdig biologistisches Frauenbild vorherrsche. Interessant war hier vor allem, dass viele männliche Gäste ablehnend ihre Köpfe schüttelten, während die meisten weiblichen Gäste eifrig nickten. Dieses Thema gehört anscheinend dringend auf die humanistische Diskussionsagenda.

Hans Alma, Professorin an der Utrechter Universität für Humanistik, löste den möglichen Widerspruch von "Wahrheitsansprüchen und Toleranz" durch ihre Bestimmung von Humanismus als eines aktiven Pluralismus auf. Anders als ein passiver Pluralismus –Neutralität, Weltanschauung als Privatsache – ziele aktiver Pluralismus auf Dialog und engagierte Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen bis hin zu "letzten Fragen" (Werte, Ziele, Sinn) auch im öffentlichen Raum. Humanismus frage in einer Zeit der Unsicherheit selbstverständlich nach Wahrheit, wofür es aber der Prozesse des Dialoges, des Meinungsstreits und der Kooperation sowie einer Kultivierung der Sensibilität für "letzte Fragen" bedürfe.

Vielstimmigkeit

Am Nachmittag hatten die Tagungsteilnehmer ausführlich Gelegenheit, in wechselnden Zusammensetzungen an vier Dialogtischen zu sämtlichen Abschnitten des vorliegenden Textentwurfs miteinander zu debattieren.

Eine gute Nachricht lautet: Humanist/innen sind eine heterogene Gruppe. Vielstimmigkeit war die typische Erfahrung an den Dialogtischen. Fand z.B. jemand den Begriff des "humanistischen Eigensinns" ausgezeichnet und profilscharf, so gab eine andere sofort dessen Missverständlichkeit zu bedenken und schlug "Freiheit", "Selbstbewusstsein" oder "Urteilskraft" als Alternativen vor. Plädierte jemand für eine deutliche Kürzung des Abschnittes zur "humanistischen Sensibilität", betonte ein anderer die Wichtigkeit gerade dieser Passagen. Argumentierte jemand, der Humanismus-Teil müsse vor dem Praxis-Teil kommen, äußerte eine andere die Überzeugung, dass die Reihenfolge der Kapitel auf jeden Fall so bleibe müsse.

Hier ließe sich eine lange Reihe weiterer und viel kleinteiliger Beispiele (spezifische Formulierungswünsche, Ansichten, Themen) anführen. Gerade in Bezug auf letztere wird es bei allen Beteiligten entscheidend darauf ankommen, in den weiteren Diskussions- und Entscheidungsprozessen eine Perspektive einzunehmen, die auch über die je eigenen Prioritäten hinausgeht und alle verbandsrelevanten Akteure im Blick hat. Die Überlegung wird nicht so sehr sein können, ob ich mich selber möglichst vollständig mit all meinen Präferenzen in diesem Text wiederfinde, sondern wie der Text für alle Mitglieder und Mitarbeiter/innen zustimmungsfähig sein kann.  

Bei manchen Fragen zeigten sich auch weniger uneindeutige Tendenzen, in welche Richtung der Text verbessert werden könnte. So wünschten z.B. viele statt der nur impliziten Berücksichtigung der spezifischen Verbandstradition im Rahmen der historischen Gesamttradition von Humanismus eine explizitere Erwähnung. Öfter zu hören war auch der Zweifel an der Attraktivität des Textes nach außen sowie der Wunsch nach einer stärkeren Akzentuierung des politischen Engagements des Humanismus für die großen gesellschaftspolitischen Fragen der Zeit. Und nicht zuletzt ist sicherlich auch die Frage nach Trennschärfe und Alleinstellungsmerkmal weiter zu diskutieren.  

Wie dem auch sei und schließlich sein wird, eine zweite gute Nachricht lässt sich als Fazit der Tagung festhalten: "Es lohnt sich, über diesen Text zu diskutieren" war eine oft gehörte Aussage an diesem Tag. Der Text bietet Möglichkeiten gemeinsamen Nachdenkens und kontroversen Ringens um Standpunkte. Dazu sei auch hiermit nochmals ermuntert und eingeladen.

Ralf Schöppner

 

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