Keine offenen Grenzen, aus humanitären Gründen
Was auf der Tagung nicht zur Sprache kam, sich aber an dieser Stelle hinzuzunehmen lohnt, sind einige von Nida-Rümelins Überlegungen aus seinem aktuellen Buch "Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration"[2]. So manches Argument in diesem Essay dürfte nicht nur die gegen Humanismus Polemisierenden herausfordern, sondern auch viele Humanistinnen und Humanisten selbst. Setzt die Verwirklichung einer gemeinsamen politischen Identität und der Demokratie als Lebensform womöglich ein gewisses Grenzregime voraus?
In "Über Grenzen denken" spricht sich Nida-Rümelin aus demokratietheoretischen, kosmopolitischen und humanitären Gründen gegen offene Grenzen und gegen bestimmte Formen von Einwanderungspolitik aus. Eine zentrale These lautet: Offene Grenzen gefährden potentiell das Menschenrecht auf individuelle und kollektive Selbstbestimmung in einer politischen Gemeinschaft; es bedürfe vielmehr eines gesicherten Rahmens "staatlicher Institutionen" und einer "stabilen Gemeinschaft". Und ein weiteres wichtiges humanistisches Kriterium sei die "Sozialverträglichkeit" im Aufnahmeland: Weder die Zahl der Zuwanderer noch deren "Zusammensetzung" dürfe die erreichten Standards sozialer Sicherheit und sozialen Ausgleichs einfach so außer Kraft setzen.
Nida-Rümelin würdigt ausdrücklich die spontane deutsche "Willkommenskultur" (S. 155 f.), hält aber dennoch die anfängliche Politik der Bundesregierung für unvereinbar insbesondere mit dem Prinzip kollektiver Selbstbestimmung, da sie ohne wirkliche partizipatorische Prozesse auf nationaler wie auf EU-Ebene vollzogen wurde und so zum Erstarken einer rechten populistischen Bewegung nicht unerheblich beigetragen habe. Die humanitär verständliche Forderung nach einer Politik der offenen Grenzen kann demnach in Konflikt geraten mit dem zentralen humanistischen Prinzip der Selbstbestimmung.
Wohlgemerkt: sie kann es. Denn: "Es gehört zum kollektiven Selbstbestimmungsrecht einer Bürgerschaft, die sich in einem Staat organisiert hat, zu entscheiden, wie sie leben möchte, mit wem sie leben möchte, ob sie kulturelle, soziale und ökonomische Veränderungen akzeptiert oder nicht. Es gibt keine moralischen Gründe, die sie zwingen könnten, dieses Selbstbestimmungsrecht aufzugeben. Natürlich kann sie sich dafür entscheiden, die Veränderungen zu akzeptieren, die Grenzen zu öffnen, bislang nicht Beteiligte an der politischen Meinungsbildung teilhaben zu lassen, neue Kooperationsformen zu etablieren, Wohlfahrtsverluste hinzunehmen." (S. 163)
Weiter sei es aus humanistischer Sicht "hochproblematisch", wenn westliche Länder durch gezielte Einwanderungspolitik hochqualifizierte Einwanderer abwerben (braindrain) und so die Entwicklungsmöglichkeiten der Herkunftsländer dramatisch schwächen. Letztendlich würden die Fluchtursachen dadurch nicht bekämpft, sondern perpetuiert. Dies spreche zwar nicht prinzipiell gegen Einwanderungsgesetze, wohl aber für mindestens substanzielle Kompensationszahlungen an die Auswanderungsländer.
Das alles mag einigermaßen gegenstrebig erscheinen zum allgemeinen Bild von Humanismus und auch zum humanistischen Mainstream. Aber die Lektüre des Buches lohnt gerade deshalb, weil es auf hohem argumentativen Niveau Selbstverständlichkeiten in Frage stellt, ohne doch Konzessionen an die politische Rechte zu machen. Denn wer spricht es schon so klar und deutlich aus, dass der globale Zustand der Welt – die Armut und Not eines Großteils der Menschen bei gleichzeitiger Ressourcenfülle und Reichtum – schlichtweg ethisch und politisch nicht verantwortet werden kann? Und dass sich Migrationspolitik daran zu messen habe, ob sie zu einer humaneren und gerechteren Welt beiträgt? Aus dieser Grunddiagnose ergeben sich bei Nida-Rümelin die genannten, so diskutablen wie kontroversen Thesen.[3]