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Lebenskunde als Unterrichtsfach vom Kaiserreich bis heute

Das Fach Humanistische Lebenskunde blickt auf eine 130 jährige Geschichte zurück, die einen steinigen Weg aufzeigt, der von Hindernissen, Umwegen und Verboten geprägt war und mitunter noch immer ist. Erst nach der Wiedervereinigung 1990 konnte sich das Fach an der Berliner Schule fest etablieren. Die deutschlandweite Anerkennung steht noch immer aus.

Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt die Diskussion über den Einfluss der Kirchen auf das Schulwesen und die Lehrinhalte sowie über Sinn und Inhalte des Religionsunterrichts bzw. über mögliche Alternativen wie Moral- oder Bürgerkunde. So hatte bereits Adolf Diesterweg 1852 die "Schule der Pädagogik" statt einer "Schule der Kirchenlehre" gefordert. In der Folgezeit entwickelten sich unter dem Begriff Lebenskunde verschiedene, mitunter stark voneinander abweichende Konzepte und Zielvorstellungen. So konnte damit ein allgemeiner Moralunterricht, neutraler Religionskundeunterricht oder weltanschaulicher Bekenntnisunterricht als Alternative zum Religionsunterricht gemeint sein; es konnte Sittenlehre, Gemeinschaftserziehung oder Einführung in die Lebenskunst, die Hilfe bei der Alltagsbewältigung leistet, gemeint sein. Thema war auch, inwieweit Lebenskunde kein eigenes Fach, sondern allgemeines Unterrichtsprinzip an der weltlichen Schule sein sollte.

Während die ersten Debatten vor allem zwischen pädagogischen Intellektuellen und im theoretischen Rahmen stattfanden, bekamen die Fragen nach dem Einfluss der Kirche auf das Schulwesen sowie Alternativen zum Religionsunterricht in dem Maße Relevanz, wie die gesellschaftliche Bindekraft des kirchlich verfassten Christentums spürbar nachließ. Besonders in Berlin nahm die Zahl der sogenannten "Dissidentenkinder" zu und es wurden Stimmen von freidenkerischen und freireligiösen (im Sinne von "frei von Religion") Vereinigungen laut, die die Befreiung vom konfessionellen Religionsunterricht forderten, wenn stattdessen der eigene Jugendunterricht als Vorbereitungsprogramm der Jugendweihe besucht wurde.

Die erste relevante Vereinigung, die sich für die Einführung eines allgemeinen Moralunterrichts für alle Schüler_innen einsetzte, war die 1892 gegründete Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur. Sie forderte eine "sittliche Lebenskunde" als Hilfe zur praktischen Lebensbewältigung und gesellschaftlichen Orientierung (hier v.a. Helene Lange und Friedrich Wilhelm Foerster).

Die Forderung nach einem weltanschaulichen Lebenskundeunterricht in der Schule wurde erstmals 1895 von der Jugendweihe-Lehrerin Ida Altmann erhoben, die darunter eine nicht-religiöse ethisch-moralische Unterweisung verstand, die auf die Selbstbestimmung des Individuums abzielt. Kinder sollten mit Hilfe von Geschichten aus dem Alltag, an denen ethische Probleme erläutert und diskutiert werden, wirklichkeitsnah ins Leben eingeführt werden. Das moderne Leben sei ein schwer entwirrbares Durcheinander ethischer Konflikte, entsprechend gelte es nicht, Idealbilder zu zeichnen oder Patentlösungen zu vermitteln, sondern dessen Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit begreiflich zu machen. Das Wichtigste sei, die Kinder zum selbstständigen Denken anzuregen.

Der preußische Staat verweigerte jedoch die Anerkennung. Als Reaktion wurde im Gegenteil sogar die kirchliche Schulaufsicht gefestigt, die Konfessionsschule als Regelschule und die Teilnahme am Religionsunterricht als Voraussetzung für die Aufnahme an höhere Schulen festgeschrieben. Damit blieb (weltanschauliche) Lebenskunde weiterhin privat organisiert und finanziert; in der Regel als Vorbereitungsprogramm für die Jugendweihe.

Erst 1917 erhielt die Berliner Freireligiöse Gemeinde die Erlaubnis ihren Unterricht in "Lebens- und Gemeinschaftskunde sowie Religionsgeschichte" als Alternativunterricht für konfessionslose Kinder zu erteilen, die daraufhin vom konfessionellen Religionsunterricht befreit werden konnten. Der Unterricht erfolgte aber weiterhin außerhalb der Schule und musste privat finanziert werden.

In Folge der Novemberrevolution von 1918 wurde die voraussetzungsfreie Abmeldung vom Religionsunterricht und Lebenskunde als freiwillige Alternative zum Religionsunterricht anerkannt; je nach Region in der Schule oder außerhalb. Ab 1920 führten die ersten Berliner Vorortstädte Lebenskunde als Parallelfach zum Religionsunterricht ein; in Berlin folgten bald darauf einzelne Bezirke. Damit beginnt die Geschichte von Lebenskunde als anerkanntes und staatlich (teil-) finanziertes Schulfach.