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Ein humanistischer Blick auf Reformation und Lutherdekade

2017 steht der 500. Jahrestag des lutherschen Thesenanschlags an. Schon seit 2008 wird diese Feier im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Lutherdekade" der evangelischen Kirche Deutschland begleitet und vorbereitet. Liest man Publikationen der Lutherdekade, kann man sich eines Eindrucks nicht erwehren: Alles Gute kommt von Luther. Etwas weniger salopp: Freiheitsrechte, Demokratie, Toleranz und Pluralismus: All dies und vieles mehr haben wir, so scheint es, nur dem Wirken des Reformators zu verdanken.

Um die Reformation in einen breiteren historischen Kontext einzuordnen, ging der klassische Philologe und Humanismusforscher Hubert Cancik zurück in die griechische Antike und deren Rezeption zu Beginn der europäischen Renaissance. In seinem Vortrag "Der moderne Rechtsstaat und die Vielfalt der Lebensformen – Zur Rezeption antiker Staatslehren in der humanistischen Bewegung" zeigte er, dass die wirkliche Arbeit an den geschichtlichen Quellen sehr viel kleinteiliger und vielschichtiger ist als jede Geschichtspolitik. Herodot, Thukydides, Platon und Aristoteles: Ein frühes politisches Nachdenken über Demokratie, Gleichheit, Autonomie und verschiedene Formen des Lebens; ein transpersonaler Staatsbegriff ohne mythisch-sakrale Elemente, verdeutlichend, dass eben nicht alle politischen Begriffe der Neuzeit ursprünglich religiöse Begriffe waren. Marsilius von Padua und Thomas Morus als frühe Rezipienten antiker Staatslehren in Europa: Bei ersterem die Trennung von geistiger und ziviler Gewalt, die eine Pluralität der Lebensformen ermöglicht; bei Morus die "Religion der Utopienser" als Religionsfreiheit und die Ablehnung des Gedankens homogener Kulturen, der sich aktuell in so manchem europäischen Land einer neuen expliziten Beliebtheit erfreut. Kurzum, Hubert Cancik konstatierte eine gewisse "Modernität" des politischen Denkens der Antike, ohne ihre kriegerischen Elemente und realdemokratischen Defizite auszublenden. Auf die Ausgangsfrage der Tagung "Was gehört zu Deutschland" wäre von hier aus zu antworten: Das humanistische, in der Renaissance wieder aufgenommene, Erbe der Antike. Kritisch diskutiert wurde im Anschluss, inwieweit das antike Denken von z. B. Freiheit oder "Individualität" mit unserem modernen Verständnis dieser Begriffe vergleichbar ist.

Der damit eingeschlagene Denk- und Forschungsweg wurde von Enno Rudolph, Philosoph, Theologe und Kulturwissenschaftler, weiter pointiert. In seinem Vortrag "Reformation statt Renaissance – Luthers Kampf gegen die humanistische Freiheit" ging es nun nicht mehr nur um die These, dass es ohne den Humanismus in Antike und Renaissance gar keine Reformation und keinen Luther gegeben hätte. Rudolph legte vielmehr dar, dass der von Luther ausgehende deutsche Protestantismus ein Gegenhumanismus gewesen sei, der den Humanismus durch eine religiös kanalisierte Aufnahme entschärft und so demokratische und pluralistische Entwicklungen in Deutschland verzögert habe. Er zeigte dies an den aus Luthers Schriften herausgearbeiteten drei Oppositionen "Glaube statt Wissen", "Gnade statt Freiheit", "Schriftmonismus statt literarischer Pluralismus". In den Heidelberger Disputationen, "das Dokument einer Verdammung der Philosophie und der Wissenschaft im Namen eines dezisionistischen religiösen Fundamentalismus", vollziehe Luther eine "Zerstörung des Wissens". Die Schrift "Vom unfreien Willen" (De servo arbitrio) sei der "Zerstörung der Freiheit" gewidmet, sich richtend gegen den roten Faden der Freiheitsideen in der Renaissance – von Petrarca über Pico della Mirandola bis hin zu Erasmus. Und beide Schriften im Ganzen atmeten den Geist der Intoleranz: Denn während im Humanismus die gesamte Literatur der griechischen, jüdischen, kleinasiatischen und lateinischen Antike als normatives Vorbild und Legitimation eines weltanschaulichen Pluralismus gilt, gibt es im Luthertum nur die eine wahre Schrift. Vor diesem Hintergrund wäre die gefeierte Reformation als eine Niederlage des Humanismus zu bewerten. Die Frage, ob Luther und die Reformation zu Deutschland gehören würden, beantwortete Rudolph empirisch mit Ja und bedauerte zugleich, dass dann der Humanismus eher nicht dazugehöre, "leider". 

Potenziale und Grenzen des Religions- und Weltanschauungsrechts

Diese etwas düstere Diagnose Rudolphs findet einen gewissen Widerhall im deutschen Religions- und Weltanschauungsrecht. Der Philosoph und Rechtsanwalt, Thomas Heinrichs, verwies in seinem Vortrag "Ein Recht für die Kirchen oder ein Recht für alle? – Wie offen ist das deutsche Religions- und Weltanschauungsrecht?" vor allem auf dessen "Kirchenförmigkeit".