Aktuell auf humanistisch.de

  •   Mithu Sanyal (Kulturwissenschaftlerin, Journalistin, Autorin), Foto: www.stephan-roehl.de (CC BY-SA 2.0)
    Mithu Sanyal (Kulturwissenschaftlerin, Journalistin, Autorin), Foto: www.stephan-roehl.de (CC BY-SA 2.0)

"Dies ist die Literatur, die wir brauchen"

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Shida Bazyar. Heute diese Laudatio auf dich halten zu dürfen, ist mir eine Herzensangelegenheit, denn du hast mein Leben verändert. Aber hier geht es nicht um mich, sondern um dich und deinen Roman "Nachts ist es leise in Teheran". Deshalb mehr dazu später.

Zuerst einmal, haben Sie alle "Nachts ist es leise in Teheran" gelesen? Falls nicht, macht das gar nichts, weil Sie es nach heute Abend mit Sicherheit ganz bald nachholen werden. Aber hier vielleicht eine kurze Zusammenfassung: Der Roman handelt von zwei Freunden, Behsad und Peyman und ihre Familien. Ihre Geschichte beginnt in Teheran, kurz nach dem Sturz des Schahs, als einen Moment lang alles möglich erscheint und sich die beiden im kommunistischen Widerstand engagieren. Beide verlieben sich und beide heiraten, während die Welt um sie herum nach und nach die Hoffnung auf einen neuen Aufbruch verliert und in Angst vor den Todeskommandos und Revolutionswächtern erstarrt. Behsad und seine Frau Nahid müssen untertauchen und fliehen schließlich vor dem Chomeini-Regime nach Deutschland. Das letzte Mal sehen sie Peyman drei Tage, bevor er in eines der gefürchteten Foltergefängnis muss Peyman für den die Flucht zu spät kommt.

Das ist 1979, der Roman umspannt mehr als vier Jahrzehnte, in denen die beiden Familien einander verbunden bleiben: durch Briefe mit codierten Nachrichten, durch die ersten Besuche zwanzig Jahre später, als die Reform-Regierung eine kurzfristige Liberalisierung durchsetzt, durch Telefonate, bei denen die brennenden Fragen nicht gestellt werden dürfen.

Das hört sich alles nach hartem Tobak an, nach schwerer Lektüre über die wichtigen Themen. Und wichtig ist dieses Buch ungemein, aber nicht schwer. Ich habe bei der Lektüre die ganze Zeit geweint, aber nicht weil ich so erschüttert war, sondern weil es mich so bewegt hat. Weil es diese Stelle im Herzen berührt hat, die uns alle miteinander und mit unserer geteilten Menschlichkeit verbindet, die uns weich und offen und lebendig macht. Und wenn ich sage, ich habe geweint, dann müssen Sie sich vorstellen, dass mir stundenlang die Tränen über das Gesicht gelaufen sind, während mich meine Sitznachbarinnen und Nachbarn besorgt angeschaut haben, weil ich im Zug von Hildesheim nach Düsseldorf saß. Von Hildesheim, wo Shida Bazyar literarisches Schreiben und Kulturjournalismus studiert hat, und wo wir zusammen bei dem Prosanova–Festival für junge Literatur auf einem Podium mit dem wunderbaren Titel "Aufräumen" gesessen und über die Reaktionen von Leser*innen auf unsere Bücher gesprochen hatten – also über das Eigenleben der Literatur und wie Menschen mit ihr in Kommunikation gehen.

Wir hatten Bilder mitgebracht, die nicht zu sehen waren, weil der Beamer nicht funktionierte, und Leser*innenbriefe. Ich hatte ganz viele Vulvas dabei und Shida die türkische Übersetzung von "Nachts ist es leise in Teheran", die für sie und für ihren türkischen Verlag so besonders war, weil wir ja nicht vergessen dürfen, dass die meisten Menschen, die über den Landweg aus dem Iran flohen, zuerst in die Türkei gekommen sind. Weil die Türkei und der Iran eine Grenze und ganz viel Geschichte teilen und im Moment potentiell mehr als das, so dass Shidas Roman, obwohl er über die politische Situation in den 70er Jahren im Iran berichtet, als Kommentar auf die aktuelle Situation in der Türkeo gelesen wurde.

Die Rasselmania, in der die Veranstaltung stattfand, war bis auf den letzten Platz besetzt und trotzdem konnte ich jede*n Einzelne*n atmen hören, so still war es. Da ist es, was dieses Buch mit uns macht.

Es zeigt uns, dass der Iran so viel näher ist, als wir denken. Dass diese Erfahrungen so viel näher sind als wir denken. Wir alle kennen Menschen mit solchen Geschichte– oder sind diese Menschen oder sind von ihren Geschichten direkt mitbetroffen. "Nachts ist es leise in Teheran" bekommt den Uwe Johnson Förderpreis nicht, weil der Roman ein wichtiges Thema bearbeitet, mit dem man sich einmal auseinandergesetzt haben sollte, sondern weil dieses Thema Teil unser aller Erfahrung ist. Das sind die Geschichten unserer Väter & Mütter, unserer Großeltern & ganz verstärkt gerade die Geschichten unserer Freund*innen und Geliebten.

Bloß werden sie in der Regel so behandelt, als wäre sie kein Glied in der Kette unseres Alltags, als würde ihr Fehlen nicht diese Kette zerreißen, als würden wir uns nicht allen etwas nehmen, wenn wir sie nicht erzählen.

Shida Bazyars Roman ist eine Einübung in Empathie. Das ist natürlich das Wesen von Literatur. Aber dann ist dieser Roman halt Literaturliteratur. Er lässt uns in die Haut von verschiedenen Generationen von Figuren kriechen und durch ihre Augen auf unterschiedliche politische und soziale Bedingungen sehen, auf ihre innere Logik und Lebensweise. Und diese Geschichten sind unserer Geschichten. Es sind deutsche Geschichten, obwohl das Buch im Iran beginnt, obwohl im Titel Teheran steht und obwohl - nein gerade weil - die Hauptfiguren darin nicht weiß sind.

Denn der Roman erzählt nicht nur von Flucht und dem Verlust von Heimat, sondern auch von Wurzellosigkeit in beiden Kulturen – und davon, dass dieses schwierige Verhältnis zu Wurzeln ebenfalls eine Heimat sein kann. Für viele Menschen. Eine meiner vielen Lieblingsstellen ist die, in der Mo, der Sohn von Behsad und Nahid, die Frage gestellt bekommt, die Menschen wie uns immer wieder gestellt wird: Wo kommst du her?

Oder übersetzt: Du gehörst hier nicht hin. Du bist nicht einer von uns. Du bist einer von denen. Also wer sind diejenigen, zu denen du eigentlich gehörst? 

Und das wunderbare an dieser Szene ist, dass Shida nicht den Fragenden vorführt und Mo als überlegen aus dem Gespräch herausgehen lässt, sondern dass sie den Abgrund fühlbar macht, den diese Frage auslöst. Nicht nur, weil Mo aus dem Kreis der Hiesigen ausgeschlossen wird, sondern auch weil es für ihn nicht einfach ein Dort gibt, zu dem er statt dessen gehört. Und dann mischt sich ein Mädchen ein und ist an seiner Stelle wütend auf den Typen, der die Woher-Frage gestellt hat, und alles wird noch viel komplexer. Denn es gibt keine einfachen Antworten. Weil die einfachen Antworten notwendigerweise falsch sind.

Und das ist eine andere Sache, die ich an Shida sehr schätze, dass sie sich explizit mit Rassismuserfahrungen auseinandersetzt. In ihrer literarischen wie in ihrer nicht-literarischen Arbeit. Ich möchte nicht aus "Nachts ist es leise in Teheran" zitieren, weil Shida gleich noch selber daraus lesen wird. Aber ich möchte Shida Bazyar zitieren und zwar aus einer Kolumne, die sie für DIE ZEIT geschrieben hat:

"Selten verbindet etwas so sehr, wie festzustellen, dass man, obwohl man sich erst Jahrzehnte später an der Uni kennenlernte, die gleichen Held*innen teilte und es immer noch Spaß macht, sich über deren Abenteuer auszutauschen." Der Held, um den es geht, ist Benjamin Blümchen, der freundliche Töröh-posaunende Elefant aus der Hörspielserie von Elfie Donnelly. Shida fährt fort: "Benjamin Blümchen träumt ist so eine Folge, die oft Anlass zu Gesprächen gibt, vermutlich, weil sie ungewohnt surreal daherkommt. In dieser Folge träumt Benjamin Blümchen, er sei in einer Welt gelandet, in der seine gewohnten Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden – nämlich der Elefantenwelt. Hier ist er nicht mehr der einzige sprechende Elefant, hier müssen sein Kumpel Otto sowie der Erzähler Erwin sich in ungewohnt spektakulären Sequenzen vor den anderen Elefanten verstecken, denn sie sind ja Menschen. Ottos Mathelehrer wird sogar im Zirkus vorgeführt, vor einem rein elefantischen Publikum, das sich für die Dressur des Menschen begeistert. ‚Gruselig war das‘, sagte neulich ein Freund über diese Stelle, ‚als ich mir als Kind vorstellte, wie das sein muss, selbst mal so ein Zirkusobjekt zu sein.‘"

Und das ist der Moment, in dem Shida auffällt, dass ihre Freunde sich mit den Menschen identifizieren, während sie sich als Kind selbstverständlich mit dem Elefanten identifiziert.

"Einem Elefanten, vor dem sich die meisten Menschen erst einmal erschrecken, an seinen Kompetenzen zweifeln, dem sie den Zugang zu verschiedenen Räumen nicht gewährleisten wollen (weil er zu ‚dick‘ ist), und der sich immer erst Gehör durch sein außerordentliches Können verschaffen muss: Benjamin ist der Held, und Benjamin bleibt trotzdem immer der ‚Andere‘, der ‚Fremde‘." Nicht, weil alle einem so begegnen. "Ich treffe viele wahnsinnig nette Veranstalter*innen", schreibt Shida weiter "und bin begeistert, wie viele freundliche und offene Leser*innen es gibt, die nach Lesungen auf mich zukommen. Und wie stark das im Kontrast dazu steht, wie meine Anreise war. Wie Menschen mir auf der Suche nach dem Hotel nicht antworten, sondern weitergehen, wenn ich mit ‚Entschuldigen Sie bitte …‘ auf sie zugegangen bin."

Und ich möchte hier unterstreichen, dass das keine Ausnahme ist.

Als ich am Hamburger Hauptbahnhof einen Schaffner nach dem Hauptausgang gefragt habe, hat der mich eisern ignoriert. In der Annahme, er habe mich halt nicht gehört, wiederholte ich meine Frage, worauf er mich anblaffte: "Ich habe zu tun." Ungelogen in dieser Sekunde kamen zwei Frauen auf ihn zu, die so aussagen wie die Bilder bei einer Google-Suche "deutsche Frau", und er erklärte ihnen ausführlich alles, was sie wissen wollten.

Die Reaktion auf Schilderungen wie diese ist in der Regel eine Einverleibungsgeste: Das war bei mir auch so, so geht es einem auch, wenn man in der deutschen Provinz aufgewachsen ist oder Arbeiterkind ist oder ein dickes Arbeiterkind in der Provinz. Und es stimmt, diese Erlebnisse sind universell. Die Struktur von Diskriminierung ist überall die Gleiche. Und gleichzeitig ist sie zutiefst spezifisch. Und von beidem können wir eine Menge lernen. Doch dafür müssen wir darüber sprechen und schreiben und zuhören und lesen. Ein anderes Panel, zu dem wir beide in Hildesheim eingeladen waren, war "Spaceinvaders", auf dem sich verschiedene Autorinnen darüber unterhielten, was es für sie bedeutete eine woman of colour in Deutschland zu sein. Und obwohl ich das schon mein Leben lang bin, okay ursprünglich war ich ein girl of colour, war es doch frappierend, wie hart es war, darüber zu reden. Weil uns in Deutschland eine Sprache dafür fehlt, weil uns die Texte dafür fehlen, die Narrative, die uns helfen, Worte dafür zu finden. Weil diese Erfahrungen unsichtbar werden, wenn wir uns nicht explizit damit auseinandersetzen, weil Dinge, die uns von außen aufoktroyiert werden, in uns hinein kriechen und uns davon überzeugen, dass wir es sind, die irgendwie falsch sind, irgendwie merkwürdig, der Elefant im Raum. (Es ist kein Zufall, dass das das einzige Stofftier ist, das ich aus meiner Kindheit aufbewahrt habe)

Das erste Problem mit Rassismus ist, dass er die Phantasie einschränkt, hat Carolin Emcke sinngemäß gesagt. Dass wir uns selbst nicht vorstellen können, dass unsere Geschichten wichtig sind. Dass wir uns bestimmte Menschen nur noch in bestimmten sozialen Positionen vorstellen können: Den Muslim, die kopftuchtragende Opfer-Migrantin. Und auch darin ist "Nachts ist es leise in Teheran" erschütternd relevant, dass er zeigt, dass Nationalstaaten und politische Systeme nicht das sind, wovon wir reden, wenn wir von Heimat reden. Chomeini und Amadschinebad sind nicht Iran, Angela Merkel ist nicht Deutschland, Angela Merkel ist nicht unsere Mutti, meine Mutter ist meine Mutter, eine Person, deren Hände ich berührt habe (und die mir den Stoffelefanten genäht hat). In den Gefühlen und Farben und Mentalitäten meiner Kindheit & Jugend & Jetztzeit liegt meine Heimat. Aber vor allem in den Verbindungen mit Menschen, die ich liebe und die mich lieben. Das ist für Menschen im Iran und aus dem Iran und aus Indien und egal woher nicht anders.

Bloß, dass das gerade von unseren Politiker*innen und Kritiker*innen fröhlich vergessen wird. Nicht alle gehen so weit wie der Präsident, auf dem im Moment unser aller Augen mit entsetzter Faszination fixiert sind. Ich spreche natürlich von Donald Trump und seinem muslim ban. Shida Bazyar kommentierte das:

"Während um mich herum nach und nach auch dem Letzten bewusst wurde, dass er sich in seinem Glauben an die Gerechtigkeit geirrt hat,  ist mir zum ersten Mal eine rassistische Kollektivstrafe begegnet."

Jetzt denkt man sich: Ist Rassismus nicht immer Kollektivstrafe? Doch halt: der Satz geht weiter: "eine rassistische Kollektivstrafe begegnet, die sich offen gezeigt hat, ohne sich zu verstecken. Das ist eine neue Dimension." Und es ist wichtig, sich diese neuen/alten Dimension bewusst zu machen.

Ich habe bei dem muslim ban ebenfalls sofort gedacht: Das betrifft mich, das betrifft Menschen wie mich, die aussehen wir ich. (Und als zweites: Da will ich auch gar nicht hin, dort erschießt man Schwarze auf der Straße.)

Dabei bin ich weder Muslima, noch habe ich einen Pass, der auf der Liste steht. Statt dessen habe einen deutschen Pass, den die Beamten am Flughafen immer erst einmal auswendig lernen und ihr kleines Walkie-Talkie befragen müssen, um zu glauben, dass er wirklich mir gehört, wirklich zu mir gehört. Als hätten nicht Millionen von nicht-weißen Menschen weiße Pässe.

Viele von uns werden sogar mit so einem Pass geboren. Inzwischen.

Anfang der 70er Jahre, als ich auf die Welt kam, war das anders. In Deutschland bekamen Kinder automatisch die Staatsangehörigkeit des Vaters, weil so etwas wie Nationalität nun einmal über den Mann vererbt wurde. Meine Mutter lebte in der Angst, dass mein Vater sich eines Tages entscheiden würde, nach Indien zurück zu gehen und das Kind mitzunehmen und sie keine Handhabe hätte, ihn daran zu hindern. Das hätte er natürlich nie getan. Und das hat er übrigens auch nie getan. Aber das waren die Geschichten, mit denen ich aufgewachsen bin. Das prominenteste Beispiel, das auch in "Nachts ist es leise in Teheran" vorkommt, ist Betty Mahmoodis Buch "Nicht ohne meine Tochter". In dem vermeintlich autobiographischen Bericht fliegt die Autorin mit ihrem iranischen Ehemann für einen zweiwöchigen Urlaub in den Iran und erfährt dort, dass er seine Arbeit in Amerika gekündigt hat und sie ab jetzt im Iran nach iranischen – sprich patriarchalen – Regeln leben werden. Betty Mahmoody wird eingesperrt und misshandelt, bis ihr endlich die Flucht mit ihrer kleinen Tochter gelingt. Meine Freundin Sarah gab mir das Buch mit der Frage: Ist das wirklich so? Als wären alle braunen Männer gleich, immer und überall. Und als wäre ich Expertin für eine sehr private Geschichte, die inzwischen zu Recht umstritten ist.

Ich wünschte mir, es hätte damals schon Shida Bazyars Buch gegeben, um es Sarah in die Hand zu drücken. Nicht um zu sagen: So ist der Iran wirklich. Sondern: So sieht differenziertes Erzählen aus. Denn Shida Bazyar zeichnet darin nicht nur ein viel differenziertes Geschlechterbild, sondern ein sehr viel differenziertes gender-and-race-Bild, bei dem es natürlich strukturelle Diskriminierung gibt, sich diese aber nicht dadurch auszeichnet, dass die Männer sich die Hände reiben, weil sie endlich ihre Frauen unterdrücken können. Iranische Männer lieben ihre Frauen und Töchter und Mütter und Schwestern genauso wie Amerikanische oder Deutsche oder Isländische Männer das tun.

Und damit wären wir beim Thema Sexismus – konkreter: Sexismus im Literaturbetrieb - über den von der Hildesheimer Schreibschule ausgehend eine Debatte ausgelöst wurde. Shida hat dazu einen der für mich wichtigsten Beiträge geschrieben, in dem sie zeigt, dass Sexismus und Rassismus Zwillinge sind, weil beide unsere Art, die Welt zu sehen beeinflussen – und zwar egal, ob wir Subjekt oder Objekt von Sexismus oder Rassismus sind – weil beide Selbstverständlichkeiten erschaffen, die nicht hinterfragt werden, wie die, wer am längsten sprechen darf – und eben auch: Wer gelesen wird.

Es ist  immer gut, zur rechten Zeit ein Goethe Zitat zu haben. Also kommt hier das obligatorische Goethe Zitat: "Nationalliteratur will jetzt nicht viel besagen" das ist aus einem Brief von Goethe an, wen könnte es auch sonst sein: Eckermann, 1827. Vor fast 200 Jahren begrub Goethe damit die Nationalliteratur zu Gunsten der Weltliteratur. Vor rund drei Jahren forderte Sigrid Löffler Die neue Weltliteratur. Damit meinte sie das, was in England und Amerika Postkoloniale Literatur genannt wird. Dort wäre ein Roman wie "Nachts ist es leise in Teheran" ein literarischer Glücksgriff, aber nicht eine solche Sensation wie er das in Deutschland ist, weil er dort eine große Familie von ähnlichen und ganz anderen Romanen hätte, die seine Autorin mitgeprägt und beeinflusst hätten. Es ist nicht so, dass es diese literarischen Stimmen in Deutschland nicht gibt, aber sie sind vereinzelt und was wir brauchen ist eine Vernetzung, eine Struktur, auf der wir aufbauen können. Und das Wunderbare an Shida Bazyars Buch ist, dass sie mit einer Selbstverständlichkeit schreibt, als wäre dies bereits der Fall.

Aus diesem Grund wird ihr Roman häufig als "Denkmal einer ganzen Generation" gelobt. Und ich kann diese Reaktion verstehen, aber "Nachts ist es leise in Teheran" ist kein Denkmal, gemeißelt in Stein. Er ist ein polyphones Geflecht aus vielen verschiedenen Stimmen aus mehr als zwei Generationen. Und alle diese Stimmen sind konkret und individuell und lebendig und widersprüchlich. Dadurch gibt uns Shida Bazyar Zugang zum Zuhören & zum Fragen und lässt uns darüber nachdenken, was die Voraussetzungen dafür sind, überhaupt Fragen stellen zu können. Denn in der Regel herrscht ja ein Schweigen vor, ein Schweigen aus Unsicherheit und Unwissen, das schließlich dazu führt, dass man das Schweigen nicht einmal mehr bemerkt. Eine andere  wichtige Szenen in dem Buch ist, wie Behsad für eine Demonstration von Exiliranern "Antworten vorbereitet, doch niemand stellte Fragen". Und jetzt habe ich doch "Nachts ist es leise in Teheran" zitiert. In dem Literaturzeitschrift Bella Triste wurde Shida gefragt, wie sie für ihren Roman recherchiert hätte und sie sagte, dass sie ihre Familie interviewt hätte. Ohne – und das ist ganz wichtig zu erwähnen – dass der Roman in irgendeiner Weise autobiographisch wäre.

Und das ist, wie Shida Bazyar mein Leben verändert hat.

Sprechen und Zuhören und Interviews führen, ist das, was ich täglich tue – aber mit fremden Menschen und eben nicht mit meinen eigenen Eltern. Ich dachte immer, mein Vater hätte mir etwas vorenthalten. Wahlweise weil ich ein Mädchen bin oder weil ich halb deutsch bin, na ja, okay, halb polnisch. Das war die Botschaft der Gesellschaft: Wenn dein Vater dir nicht mehr über "seine Kultur" mitgeteilt hat, dann liegt das daran, dass er ein patriarchaler Mann ist.

Und nachdem ich Shida gelesen hatte, habe ich mein Reportagegerät genommen und mich mit ihm an den Küchentisch gesetzt, um ihn zu seiner Kindheit und Jugend in Indien zu interviewen, zu seiner Migrationsgeschichte, wie er sich gefühlt hat, bevor er versuchte sich so perfekt zu integrieren, dass er deutscher als jeder Deutsche wurde, und damit trotzdem noch lange nicht deutsch. Und wie sich das alles anfühlte. Und ich war erschüttert, dass er mir das nicht mitteilen konnte, weil er kein inneres Narrativ hatte. Weil er gelernt hatte, dass Menschen wie er nicht der Rede wert sind.

Nicht nur haben wir es nicht gelernt zu fragen - ich habe es nicht gelernt zu fragen – er hatte es auch nicht gelernt, sich selbst diese Fragen zu stellen.

Doch wenn diese Geschichten nicht erzählt werden, dann brechen viele von ihnen ab, wenn sie die Grenze überschreiten – wie ein abgelaufenes Haltbarkeitsdatum – ein Leben vor und ein Leben nach der Flucht, vor und nach der Migration. Dabei ist es so wichtig, diese Identitätsstränge miteinander zu verbinden. Nicht nur für die Menschen, die kommen, sondern auch für die, die nach ihnen kommen und für diejenigen, die bereits da sind. Und auch das, hat mich an Shida Bazyars Roman zu Tränen im Zug gerührt. Denn die Fluchtgeschichte der Eltern ist auch die Geschichte ihrer Kinder. Shida schreibt über die Kränkung der nächsten Generation, über die Dinge, die nicht mitgeteilt werden können, weil sie sich so schwer vermitteln lassen. Und das ist kein Problem von individuellem Informationstransfer. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Was dabei hilft, sind kollektive Geschichten, wie sie die Literatur liefert, wie sie Shida Bazyars Buch liefert.

Ich könnte jetzt mit einem Zitat von Uwe Johnson enden, wie "Ich bin sicher, es gibt Geschichten, die man so einfach erzählen kann, wie sie zu sein scheinen, Ich kenne keine." Statt dessen möchte ich mit einem Zitat von John Donne enden. Johnson/John Donne, das hört sich ja schon so ähnlich an:

"No man is an island entire of itself, every man
Is a piece of the continent, a part of the main;
If a clod be washed away by the sea, Europe
Is the less, .... as well as any manner of thy friends
or of thine Own were; any man’s death deminished me
Because I am involved in mankind."

Ich werde das jetzt nicht übersetzen. So wie in Shida Bazyars Text die persischen Ausdrücke unübersetzt stehen. Das Leben ist bilingual, bilateral, bikulturel. Und dann gibt es hinten in dem Buch natürlich doch ein Glossar. Deshalb hier meine Übersetzung:

"Keine Literatur ist eine Nationalliteratur
Jede Literatur ist Teil der Weltliteratur
Wenn wir einen Teil der Menschheitserfahrung wegnehmen
nehmen wir uns einen Teil von uns selbst weg
Denn das ist es, was es bedeutet, Mensch zu sein."

Preise sind nahezu die einzige Form von Literaturförderung, die wir in diesem Land haben. Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, wie wichtig ich den Uwe Johnson Förderpreis finde. Nicht nur den Uwe Johnson Preis, den natürlich auch, aber gerade den Förderpreis, der in die Zukunft schaut, der Entdeckungen macht und der es jungen Autor*innen ermöglichst, von und für ihre Arbeit zu leben.

Als ich zu der Debatte über Sexismus im Literaturbetrieb interviewt wurde, zu der Shida Bazyar, wie ich bereits erwähnt habe, für mich einen der bewegendsten Beiträge beigesteuert hat, war eine der Fragen: Was ich denn davon halten würde, wenn die großen Literaturpreise wie der Ingeborg Bachmann Preis oder auch der Uwe Johnson Preis für die nächsten - sagen wir einmal - 10 Jahre nur an Frauen vergeben würde, sozusagen als ausgleichende Ungerechtigkeit. Und ich muss sagen, dass mich diese Vorstellung relativ kalt gelassen hat. Klar, warum nicht? Aber damit würden nur 10 Autorinnen gefördert werden oder eben 20, wenn es beide Preise wären. Das hätte vielleicht Signalwirkung, wen wir schätzen. Ja. Aber es würde nur diejenigen Frauen auszeichnen, die sich in der Literaturlandschaft so wie sie ist durchgesetzt haben. Was dagegen jedoch wirklich in direkter Form die Literaturlandschaft verändert, sind die Förderpreise.

Deshalb bin ich so froh, dass Shida Bazyar den diesjährigen Uwe Jonson Förderpreis erhält, dass sie ihn mehr als verdient, steht außer Frage. Aber es ist ein Zeichen dafür, dass die Jury eine exzellente Urteilsfähigkeit und Weitsichtigkeit an den Tag legt. Dies ist die Literatur der Zukunft, dies ist die Literatur, die wir brauchen.

Herzlichen Glückwunsch!