Vor dem Hintergrund stetig steigender Wohnungslosenzahlen benötigt Berlin ein gut ausgestattetes, dezentrales und niedrigschwelliges Versorgungssystem für wohnungslose Menschen. Experten gehen inzwischen davon aus, dass allein in Berlin aktuell bis zu 20.000 Menschen von Wohnungslosigkeit betroffen sind.
"Auch diese Menschen haben ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Daher braucht es einen unbürokratischen Zugang für alle hilfesuchenden Menschen zu Gesundheitsdienstleistungen unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltsstatus", erklärt Katrin Schwabow, zuständig für die Wohnungslosenarbeit beim Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg.
In Berlin erhalten Wohnungslose aktuell in zehn Einrichtungen eine niedrigschwellige medizinische Versorgung.
"Dies ist viel zu wenig angesichts des wachsenden Bedarfs, den wir auch in unserer Einrichtung am Bahnhof Lichtenberg registrieren", so Schwabow weiter.
Allein im vergangenen Jahr haben im TagesTreff an der Weitlingstraße 2.600 ärztliche oder zahnärztliche Behandlungen stattgefunden. Berlinweit wurden 2015 über 30.000 allgemeinmedizinische und zahnärztliche Behandlungen in den Anlaufstellen für Wohnungslose durchgeführt.
In der Arztpraxis des HVD hat sich in den vergangenen Jahren auch die Klientel der Wohnungslosen und Bedürftigen verändert. Immer mehr Menschen, die etwa durch Verlust des Arbeitsplatzes in den Abwärtsstrudel gerieten, landeten als wohnungs- und mittellose Bedürftige in der Praxis. Zudem kämen mehr osteuropäische Menschen, die in Berlin gestrandet seien. Psychische Erkrankungen werden immer häufiger, körperliche und seelische Erkrankungen nehmen massivere Ausmaße als noch vor Jahren an, weiß der leitende Arzt der Anlaufstelle des Humanistischen Verbandes, Dr. Dieter Müller-Koepke, zu berichten.
Entsprechend werden auch an den Kleider- und Essensausgaben die Warteschlangen länger. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass Konflikte zunehmen und immer wieder auch eskalieren. Die Konzentration der Menschen an den wenigen Anlaufstellen trägt dazu bei.
"Diese Massierungen Bedürftiger müssen verhindert werden, um Eskalationen wie die am Bahnhof Zoo zu verhindern", kommentiert Katrin Schwabow. "Es braucht aber auch dringend eine nachhaltige Einbettung der niedrigschwelligen Wohnungslosenhilfe in ganzheitliche Konzepte, die Überlebenshilfen bieten und mit aktiver Sozialarbeit verbinden, um Problemlagen frühzeitig zu erkennen und gegen sie vorzugehen."
"Wollen wir den Menschen am Ende der Wohlstandskette ernsthaft helfen, brauchen wir neue Ansätze und eine grundständige finanzielle Ausstattung. Beides ist überfällig, da die prekäre finanzielle Ausstattung der medizinischen Praxen für Wohnungslose nur scheinbar Kosten senkt. Die Unterversorgung der in weiten Teilen auf Spenden und ehrenamtliche Unterstützung angewiesenen Wohnungslosenhilfe in Berlin sorgt auf der anderen Seite zu immensen Kostensteigerungen für Notfallbehandlungen oder die stationäre Behandlung in Krankenhäusern, weil die Betroffenen viel zu lange auf medizinische Behandlungen und hygienische Beratungen warten müssen", erklärt die Abteilungsleiterin für Soziales beim HVD Berlin-Brandenburg Andrea Kaethner-Isemeyer.
(Titelbild: Peronimo via Flickr (CC BY 2.0))