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  • Im Lebenskundeunterricht werden Themen besprochen, die Kinder wirklich beschäftigen.
    Foto: istock.com/evgenyatamanenkoIm Lebenskundeunterricht werden Themen besprochen, die Kinder wirklich beschäftigen.

Herzlichen Glückwunsch, Humanistische Lebenskunde!

Eine Reportage von GUNDULA HAAGE

9 Uhr an einem Dienstagmorgen im März. In einem Stuhlkreis sitzen zehn Kinder und klatschen rhythmisch auf ihre Oberschenkel. „Lebenskunde, was ist das? Lebenskunde, das macht Spaß! Natürlich ist es Unterricht, doch Zensuren gibt es nicht. Schub­schubi­duwap, schu­bi­dubi­dai“, singen sie zur Melodie des Songs „Rock Around the Clock“ von Bill Haley & His Comets.

Wir sind zu Besuch in einer jahrgangsübergreifenden Unterrichtsstunde der Humanistischen Lebenskunde an der Hunsrück­-Grundschule in Berlin­-Kreuzberg. Der Anlass ist ein runder Geburtstag: Seit vierzig Jahren wird das Fach an Berliner Schulen unterrichtet, gleichberechtigt zu anderen weltanschaulichen Unterrichtsfächern. Und das mit großem Erfolg: Im März 2023 verkündete der Berliner Senat, dass erstmals mehr Schüler*innen das Fach belegten als etwa den evangelischen oder katholischen Religionsunterricht. Was hat es also damit auf sich?

Platz für die großen Fragen

Anders als der Religionsunterricht wird Humanistische Lebenskunde nicht von den Schulen selbst organisiert, sondern durch den Humanistischen Verband Berlin­-Brandenburg, den Träger des Faches. MATTHIAS KRAHE, Leiter der Abteilung Bildung, beschreibt den Kern von Lebenskunde wie folgt: „Wir haben kein heiliges Buch, sondern sind auf Konsens und Aushandlung ausgerichtet. Die Kinder lernen hautnah, was Demokratie bedeutet.“ Ob Umweltzerstörung und Kriege, Freundschaftskummer oder problematische TikTok­Trends – im Lebenskundeunterricht ist Platz für die großen Fragen der Gegenwart, genauso wie für alltägliche Sorgen. SUSAN NAVISSI, die das Fach seit 19 Jahren unterrichtet, schätzt genau diese Vielfalt. „Im Gegensatz zum Religions-­ oder Ethikunterricht liegt bei uns der Schwerpunkt auf dem Menschen. Statt religiösen Regeln wie den zehn Geboten haben wir die Kinder­- und Menschenrechte. Und statt zu glauben,dass irgendein Gott diese Erde für uns geschaffen hat, fragen wir uns, wie wir selbst ein verantwortungsvoller Teil dieser Welt sein können.“

An diesem Dienstagmorgen geht es zunächst um Gefühle. „Wir alle müssen mit unseren Gefühlen leben, auch mit den negativen. Aber viele Erwachsene können dar­ über gar nicht gut sprechen, darum üben wir das“, sagt Navissi. Sie verteilt bunte Karten im Raum. Darauf sind diverse Kindergesichter zu sehen, die mimisch Emotionen ausdrücken. „Wütend“ oder „ängstlich“ steht dabei, aber auch „aufgeregt“ und „liebevoll“. Jedes Kind sucht sich eine Karte aus. „Ich bin oberneugierig auf den Sportparcours heute! Ich will einfach alles ausprobieren!“, sprudelt Laura begeistert los und kann kaum stillsitzen. Pawel hat die Karte „vorfreudig“ ausgewählt, weil er an einem Manga-­Poster weiterbasteln möchte. Die Drittklässlerin Lina wiederum sagt lange gar nichts – bis ihr leise ein paar Tränen hinunterlaufen. Als Navissi behutsam nachfragt, erzählt sie stockend, dass sie Angst vor dem Sportparcours hat. Was, wenn das ein Wettbewerb ist? Navissi fragt in die Runde: „Wer beschützt Lina später beim Sportparcours?“ Neun Finger schnellen in die Höhe – und die Tränen versiegen.

Die zehn Mädchen und Jungen gehen in eine erste, zweite oder dritte Klasse der Hunsrück­-Grundschule. Den jahrgangsübergreifenden Lebenskundeunterricht besuchen sie freiwillig – wie alle Weltanschauungsfächer in Berlin und Brandenburg. Die Eltern entscheiden, ob und wenn ja welches Fach ihre Kinder besuchen sollen. Und Jahr für Jahr entscheiden sich mehr für Humanistische Lebenskunde.

Ein Blick zurück

Was heute nach Erfolgsgeschichte klingt, war allerdings ein langer Weg, erzählt Matthias Krahe: Die Geschichte der Lebenskunde reicht bis zum Anfang des 20. Jahrhun­derts zurück. Damals war die Schulbildung in Deutschland fest in kirchlicher Hand. Doch zunehmend wurde Kritik laut, da der dogmatisch­konfessionell geprägte Religionsunterricht als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurde. Freidenker*innen forderten einen Unterricht, der auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert. Darum boten einige atheistisch oder sozialistisch orientierte Gemeinden „lebenskundliche Jugendstunden“ an, außerhalb der kirchlich dominierten Schulen.

In den 1920er­-Jahren setzten sich liberale und freigeistige Positionen in Berlin zunehmend durch. Auf Bestrebungen des Freidenker­Verbands entstanden die ersten weltlichen Schulen, an denen Lebenskunde als Fach gelehrt wurde – bis die Nationalsozialisten diese Schulen im Jahr 1933 verboten. 1959 versuchte Willy Brandt, der damalige Regierende Bürgermeister Westberlins, das Fach zurück ins Leben zu rufen. Er stellte 90.000 D­Mark für ein alternatives Unterrichtsfach zum Religionsunterricht zur Verfügung. Die katholische Wochenzeitung „Neue Bildpost“ titelte damals empört: „Westberlin finanziert Gottlosen­-Propaganda!“. Doch es sollte noch bis 1984 dauern, bis dank engagierter Lehrkräfte erstmals ein selbst organisiertes humanistisches Wertefach angeboten wurde.

Zu Beginn wurden wenige hundert Schüler*innen unterrichtet. Vierzig Jahre später, im Schuljahr 2022/2023, sind es bereits über 73.000 in Berlin und Brandenburg. „Beliebter als der Religionsunterricht“ betitelte der Deutschlandfunk einen Beitrag im März 2023. Denn erstmals besuchten mehr Kinder den Lebenskundeunterricht als andere Weltanschauungsfächer wie Ethik, den katholischen, evangelischen oder islamischen Religionsunterricht. Heute unterrichten 381 Lehrer*innen des Humanistischen Verbandes Berlin­Brandenburg und rund 25 staatliche Lehrkräfte das Fach an insgesamt 305 Schulen in Berlin und an 19 Schulen in Brandenburg.

Die Schüler*innen lernen mit eigenen Lehrbüchern für den Humanistischen Lebenskundeunterricht.
Foto: Humanistischer Verband Berlin-Brandenburg KdöR Die Schüler*innen lernen mit eigenen Lehrbüchern für den Humanistischen Lebenskundeunterricht.

Freiwillig, humanistisch und ohne Zensuren

Viele Lehrkräfte finden als Quereinsteiger*innen ihren Weg zur Humanistischen Lebenskunde. So auch Susan Navissi: „Ich bin eigentlich Schulabbrecherin. Habe als junge Frau in einem besetzten Haus in Kreuzberg gelebt und bin von fünf Schulen geflogen“, erzählt sie schmunzelnd. Doch als sie später selbst Mutter wurde, entschloss sie sich dazu, das Abitur nachzuholen, studierte Grundschulpädagogik und Englisch. Der Wechsel zur Humanistischen Lebenskunde war für Navissi genau richtig: „Ich kam ja aus der Zurichtungsmaschinerie des Staatsdiensts, darum empfinde ich Lebenskunde als große Freiheit“, sagt sie. „Es gibt keine Zensuren und wir sind frei in unserer Schwerpunktsetzung innerhalb des Lehrplans. Ich kann im Unterricht auf das reagieren, was die Kinder gerade tatsächlich beschäftigt, selbst wenn es dann mal um Pokémon geht.“

Wie das konkret aussehen kann, erklärt Navissi mit einem Blick auf die Klassenzimmerwand. Dort hängen Schwarz­-Weiß-­Fotos aus Eritrea. Navissi berichtet, wie eine Schülerin kürzlich voller Stolz von ihrer Großmutter Zufan erzählte. Zufan wurde 1951 in Eritrea geboren, fuhr als erste Frau des Landes Motorrad, war die erste Polizeichefin – und wagte mit ihren drei Kindern die Flucht nach Deutschland. Als Navissi für ihre Unterrichtsstunde zum Internationalen Frauentag am 8. März noch nach besonderen Frauen suchte, entschieden die Schüler*innen demokratisch, sich mit der eritreischen Großmutter zu beschäftigen. In der Unterrichtsstunde ging es deshalb um Zufans Lebensgeschichte, die Flucht vor der Diktatur und was daran bewundernswert ist. „Mitmenschlichkeit, Respekt und Selbstbestimmung – an Zufans Lebensweg konnten wir ganz nebenbei gleich mehrere humanistische Werte besprechen“, sagt Navissi. So lernen die Kinder ein humanistisches Weltbild kennen, ohne dass sie dafür erklären können müssen, was genau „humanistisch“ bedeutet.

Nachwuchs gesucht

Mit der wachsenden Beliebtheit des Faches gehen allerdings einige Herausforderungen einher. Die Klassen wer­ den größer, denn wie auch im gesamten Schulsystem fehlen Lehrkräfte. Seit 2023 bildet der Humanistische Verband Berlin­Brandenburg durch die eigens gegründete Humanistische Hochschule Berlin aus. In einem berufsbegleitenden Masterstudiengang werden Menschen, die im Bachelor beispielsweise Philosophie oder Soziologie studiert haben, fit für den Berufsalltag gemacht. 26 Studierende absolvieren den Master derzeit, dazu sind 16 Lehrkräfte in praktischer Ausbildung.

Eine davon ist FANNY TAMKE, die im zweiten Semester Lebenskunde studiert. Sie wurde durch die begeisterten Erzählungen ihrer Kinder auf das Fach aufmerksam. Lebenskunde ist deren Lieblingsfach: „Weil es um Freundschaft und Streit geht, aber auch um die Umwelt und was meine Rechte als Kind sind“, erzählt Tamke. Mit einem Hintergrund als Erziehungswissenschaftlerin und Lerntherapeutin ist sie seit vielen Jahren jeden Tag mit den Fragen und Sorgen von Kindern konfrontiert. Um Kinder dabei zu unterstützen, zu selbstbestimmten und verantwortungsbewussten Menschen heranzuwachsen, entschloss sie sich für den berufsbegleitenden Masterstudiengang Humanistische Lebenskunde. Im Sommer wird Tamke im praktischen Jahr ihre erste eigene Schulklasse unterrichten und freut sich besonders darauf, mit den Kindern über den Schwerpunkt Naturzugehörigkeit zu sprechen.

Nach Aussage von Matthias Krahe ist die Nachfrage nach Menschen wie Tamke groß. „Aktuell bräuchten wir fünfzig neue Lebenskunde­Lehrkräfte pro Jahr, also doppelt so viele, wie wir gerade ausbilden“, erzählt er. Doch neben einer knappen Finanzierung sind auch strukturelle Hürden zu bewältigen. Die Lehrkräfte sind bis auf wenige Ausnahmen beim Verband angestellt und damit nicht Teil der Schulkollegien. Organisatorisch war das insbesondere während der Coronapandemie belastend. „Die Pandemie war eine sehr disruptive Erfahrung“, erinnert sich Krahe, „aber immerhin konnten wir in der Zeit, als viel Unterricht ausfallen musste, einen Riesensprung in Sachen Digitalisierung hinlegen“. Nicht nur der Verwaltungsbedarf von Lebenskunde findet außerhalb der Schulstruktur statt, auch die Bezahlung ist geringer als bei Staatsbediensteten mit Hauptstadtzulage. „Wir müssen als Arbeitgeber ständig besser sein als der Berliner Senat“, sagt Krahe kämpferisch – und wünscht sich, dass die Lebenskunde­Lehrkräfte ihren staatlich angestellten Kolleg*innen gleichgestellt werden.

Einen Unterschied machen

Susan Navissi ist trotz allem sehr zufrieden mit ihrem Be­ ruf. Ihr Blick wird eindringlich, wenn sie über die Relevanz von Lebenskunde spricht. Sie erzählt von einer Unterrichtsstunde, in der es um die Frage ging, wann sich die Kinder geborgen fühlen. „Einer meiner Schüler ist mit seiner Familie aus Syrien über das Mittelmeer geflüchtet und sagte, er habe sich zuletzt beschützt gefühlt, als sein Vater ihn festgehalten hat, damit er vom Boot nicht ins Wasser fällt. Da mussten wir alle erst einmal schlucken.“ Navissi gestaltet am liebsten Stunden zum Thema Gerechtigkeit. Dabei geht es oft auch um Rassismus oder um aktuelle politische Entwicklungen, die die Kinder von ihren Eltern mitbekommen. „Natürlich kommen ganz viele Ängste auf, wenn die Nachrichten plötzlich voll sind mit rassistischen Abschiebungsfantasien“, sagt Navissi. Darauf kann sie in der Humanistischen Lebenskunde reagieren: „Wir arbeiten im Unterricht damit, wie die Welt ist, aber auch mit Imaginationen, wie eine gerechte, solidarische, nachhaltige und freie Welt sein sollte. Und genau solche Visionen brauchen wir ja.“

Matthias Krahe ist überzeugt, dass die Bedeutung der Humanistischen Lebenskunde in Zukunft noch zunehmen wird: „Wir rechnen damit, dass das Wachstum weitergeht“, sagt er. Denn in Berlin seien derzeit zwei von drei Menschen konfessionslos. In Umfragen gibt ein großer Teil dieser Menschen an, eine humanistische Weltsicht auf Basis der Menschenrechte zu unterstützen. Und auch aus anderen Bundesländern wie Hamburg und Bremen kommen immer wieder interessierte Fragen zum Fach beim Verband an. Welche Wünsche Krahe anlässlich von vierzig Jahren Lebenskunde dennoch hat? „Ich wünsche mir die Schlagzeile ‚Humanistische Lebenskunde – die Bildungsantwort auf die Krisen unserer Zeit’“, sagt er. Denn genau das biete das Fach bereits heute.

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Matthias Krahe
Leitung der Abteilung Bildung
Susan Navissi
Lehrerin für Humanistische Lebenskunde