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  • „Wichtiger als Du denkst – Freie Träger am Limit“: Auf der Demonstration am 8. November war der Verband, gemeinsam mit anderen Berliner Sozialverbänden, präsent vertreten.
    Foto: Humanistischer Verband Berlin-Brandenburg KdöR„Wichtiger als Du denkst – Freie Träger am Limit“: Auf der Demonstration am 8. November war der Verband, gemeinsam mit anderen Berliner Sozialverbänden, präsent vertreten.

Kümmern am Limit

Eine Reportage von GUNDULA HAAGE 

8. November 2023 vor dem Roten Rathaus in Berlin: „Soziale Arbeit ist nicht umsonst“ steht auf einem Poster, das sich eine Frau um den Hals gehängt hat, daneben baumelt eine Trillerpfeife. Ein schwarzer Hund trägt ein Pappschild im Maul: „Mehr ❤ & Geld für helfende Hände & Pfoten“ steht darauf. Das Plakat eines jungen Mannes mit Basecap warnt: „Heute gespart kommt morgen hart“. Ältere und jüngere Menschen, Kinder und Rollstuhlfahrende: Sie alle bilden eine große, bunte Menschenmasse.

An diesem Mittwochnachmittag sind rund 4.000 Personen dem Demonstrationsaufruf unter dem Titel „Wichtiger als Du denkst – Freie Träger am Limit“ gefolgt. Dazu aufgerufen haben die großen Sozialdachverbände der Stadt. Nach dem Auftakt am Roten Rathaus ziehen die trillerpfeifenden und Sprechchöre skandierenden Menschen in einem langen Demonstrationszug zum Abgeordnetenhaus. Der Anlass des Protests: Am 5. Juli 2023 hatte die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie drastische Kürzungen für den Doppelhaushalt 2024/2025 angekündigt. Viele Projekte der sozialen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sollten von bis zu 20 Prozent Kürzungen betroffen sein. Welche konkreten Folgen hätten diese Kürzungen gehabt – und wie reagierten die freien Träger, um das Schlimmste abzuwenden?

Ein Anruf bei DAVID DRIESE, Vorstand des Humanistischen Verbands Berlin­-Brandenburg: „Mein erster Ge­danke, als ich von den Kürzungen erfuhr, war: Jetzt geht es los“, erzählt er. Beim Verband habe man Derartiges befürchtet, denn „es ist kein Geheimnis, dass gekürzt wird, wenn die Haushaltslage angespannter ist. Und das ist mit der Coronakrise und dem Krieg in der Ukraine seit mehreren Jahren der Fall.“

Akut von den angedrohten Einsparungen betroffen waren beim Humanistischen Verband Berlin­-Brandenburg fünf Projekte: Zum einen das queere Jugendzentrum in Treptow­-Köpenick JuKuZ, das erst im Januar 2023 seine Arbeit aufgenommen hatte. Mit der deutlich geringeren Finanzierung hätte die Zahl der Mitarbeitenden halbiert und das Angebot stark eingeschränkt werden müssen. Als Nächstes war der TagesTreff betroffen, ein Teilprojekt der Obdachlosenarbeit, wo Menschen ohne Wohnsitz unter anderem medizinisch versorgt werden. Auch die Fachstelle MenschenKind, die Eltern von pflegebedürftigen Kindern unterstützt, stand auf der Kürzungsliste. Zudem die Schwangerschaftskonfliktberatung im Prenzlauer Berg.

Es trifft die, die am meisten Hilfe benötigen

Eine, die ebenfalls sehr anschaulich beschreiben kann, wie sich 20 Prozent Kürzungen auf ein soziales Projekt auswirken, ist JULIA GIESE. Giese hat die Kontaktstelle PflegeEngagement (KPE) berlinweit mitaufgebaut. „Wir kümmern uns um diejenigen, die sich kümmern: den Pflegedienst Nummer eins“, wie Giese sagt. Denn in Deutschland wer­ den über 80 Prozent der Pflegebedürftigen von Angehörigen zuhause versorgt, oft unbezahlt. „Diese Menschen kümmern sich tagein, tagaus um ihre Familienmitglieder, sind immer erreichbar und verlieren sich dabei ganz schnell selbst aus den Augen. Bis sie nicht mehr können“, erzählt Giese. Das zeigt sich etwa daran, dass die Fälle von Depressionen, Schlaganfällen, Krebserkrankungen und psychosomatischen Erkrankungen bei pflegenden Angehörigen überproportional hoch sind. Die KPE unterstützt diese Menschen auf vielfältige Weise: von Workshops über Stressmanagement, Gesprächsgruppen und psychosozialen Beratungsgesprächen bis hin zu Kreativkursen, Sport­ angeboten und handwerklicher Unterstützung.

Obwohl die Angebote der KPE seit vielen Jahren stark nachgefragt werden und sehr positives Feedback bekommen, sollte auch hier um 20 Prozent gekürzt werden. „Wir hätten eine Mitarbeiterin entlassen müssen oder sonst nur noch unsere Personalkosten abdecken können. Miete, Honorar­ oder Versicherungskosten wären nicht mehr drin gewesen. Wo sollen die Gesprächskreise denn stattfinden, wenn wir keine Räume mehr haben?“, fragt Julia Giese und schüttelt den Kopf.

Pflegende Angehörige, Obdachlose, Schwangere und queere Jugendliche: Die radikalen Kürzungspläne der Senatsverwaltung betrafen ausgerechnet Menschen, die ohnehin auf Hilfe angewiesen sind. Keines der betroffenen Projekte des Humanistischen Verbandes Berlin-­Brandenburg hätte die Arbeit wie zuvor aufrechterhalten können.

„Für uns war klar: Das können und werden wir nicht laut­ los hinnehmen, für eine soziale Infrastruktur, für unsere Mitarbeitenden und vor allem für die Hilfesuchenden“, sagt Vorstand David Driese.

Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn jene, welche Hilfe und Unterstützung am dringendsten benötigen, allein gelassen werden?
Foto: Humanistischer Verband Berlin-Brandenburg KdöR Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn jene, welche Hilfe und Unterstützung am dringendsten benötigen, allein gelassen werden?

Gemeinsame Kräfte bündeln

Was folgte, war eine eindrucksvolle Mobilisierung. Die großen Berliner Wohlfahrtsdachverbände AWO, Caritas, Diakonie, Paritätischer, DRK und Jüdische Gemeinde schlossen sich mit einem Bündnis aus Gewerkschaften und dem Berliner Mieterverein zur Kampagne „Wichtiger als Du denkst“ zusammen. „Wenn die öffentlichen Haushalte so stark gekürzt werden sollen, dann bleibt vom sozialen Berlin nur noch ein Gerippe übrig“, hieß es in einem gemeinsamen Statement. Die Kampagne rief zu drei Demonstrationen auf, die viel Aufmerksamkeit erhielten, darunter die Demo vom 8. November. Auch die politische Vernetzung über Fachveranstaltungen und Podien spielte laut David Driese eine große Rolle: „Netzwerke sind das A und O. Als wir einige politische Verantwortliche gezielt nach den Kürzungen gefragt haben, kam heraus, dass nicht immer alle Bescheid wussten über deren konkrete Auswirkungen.“

Hinzu kam eine groß angelegte Informationsoffensive, mit der die Allgemeinheit über die Bedeutung der freien Träger aufgeklärt wurde. Denn ohne freie Träger gäbe es keine soziale Versorgung in Berlin: 110.000 Angestellte und 50.000 Ehrenamtliche arbeiten für die vielfältigen Einrichtungen. 99 Prozent aller Jugendhilfeplätze, 80 Prozent der Kitas, 52 Prozent der Pflegeheime und 100 Prozent der Plätze für Wohnungslose werden von ihnen gestellt. Im Auftrag des Staates übernehmen die Wohlfahrtsverbände diese Aufgaben und erhalten dafür finanzielle Mit­ tel. Subsidiaritätsprinzip heißt der Fachbegriff für diese zivilgesellschaftliche, weltweit einzigartige System, das seit über hundert Jahren in Deutschland existiert.

Julia Giese und ihre Kolleg*innen von der KPE nahmen ebenfalls an den Demonstrationen teil. „Unsere Arbeit unterstützt so viele Menschen, die sich ja selbst überlassen werden, wenn wir die Finanzierung verlieren,“ sagt Giese. Zudem rief sie die Pflegebedürftigen und deren An­ gehörigen dazu auf, Briefe an die Senatsabgeordneten zu schreiben und darin mit Nachdruck die prekäre Situation zu schildern. Der Einsatz zeigte Erfolg: Der Haushaltsausschuss entschloss sich am 17. November 2023 dazu, die geplanten Kürzungen, welche die freie Wohlfahrtspflege und soziale Infrastruktur direkt betroffen hätten, zurück­ zunehmen. Ein Erfolg für alle Beteiligten.

Keine Erleichterung in Sicht

Doch auch wenn das Schlimmste für den Moment abgewendet wurde, so bleibt die Situation bei vielen Projekten prekär, wie David Driese ausführt: „Eigentlich bräuchten wir im sozialen Bereich Steigerungen von 20 Prozent, im Idealfall eher 40 Prozent, um das System am Laufen zu halten.“ Denn selbst nachdem die Finanzen vorerst auf dem Stand von 2023 aufrechterhalten bleiben, bedeutet das bei steigenden Löhnen, höheren Mietkosten und Inflation de facto Kürzungen für die einzelnen Projekte.

Die beiden strukturellen Kernprobleme, die im Rahmen der Kampagne „Wichtiger als Du denkst“ immer wieder angeprangert wurden, sind ebenfalls bestehen geblieben. Zum einen wird ein Großteil der Hilfsangebote freier Träger über Zuwendungen finanziert. Das bedeutet, dass jedes Jahr aufs Neue Gelder beantragt werden müssen und die Verträge der Mitarbeitenden auf diese Zeit befristet sind. Auch dann, wenn Projekte seit Jahren erfolgreich laufen – so, wie bei der Kontaktstelle PflegeEngagement. David Driese sagt dazu: „Wenn wir die Zuwendungsverfahren entbürokratisieren könnten, dann würden wir alle eine ganze Menge Papier und jede Menge Personal einsparen, das für wichtigere Zwecke eingesetzt werden könnte.“

Die zweite Baustelle bezieht sich darauf, dass staatlich an­ gestellte Erzieher*innen, Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen für die gleiche Arbeit deutlich mehr verdienen als diejenigen, die für freie Träger wie den Humanistischen Verband Berlin­Brandenburg arbeiten. Lohnsteigerungen, Hauptstadtzulagen, Corona­ oder Energiezulagen kommen nicht immer oder nicht umfänglich für alle Projekte beim Verband an. Darum ist bis heute eine der dringlichsten Forderungen „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, wie es am 8. November in bunten Buchstaben auf meterlangen Bannern prangte.

Statt gekürzt zu werden, müssten die Haushaltsmittel sogar deutlich höher dosiert sein, damit die soziale Versorgung in Berlin aufrecht erhalten werden kann.
Foto: Konstantin Börner Statt gekürzt zu werden, müssten die Haushaltsmittel sogar deutlich höher dosiert sein, damit die soziale Versorgung in Berlin aufrecht erhalten werden kann.

Bedarfe steigen

Hört man Julia Giese zu, dann wird am Beispiel Pflege sehr deutlich, wie essenziell die soziale Arbeit der freien Träger für Berlin ist. „Im Schnitt pflegt man acht Jahre lang. Das ist total zermürbend, weil es ja nicht besser, sondern immer schwieriger wird,“ erzählt sie. Zum belastenden Pflegealltag kommen oft schwierige Beziehungsthemen hinzu. Giese deutet auf vier liebevoll gebastelte Papierpuppen, die an der Wand ihres gemütlichen Büros in Pankow hängen. „Die gehören zu unserer Storytelling­-Methode. Eine Puppe stellt die hilfsbedürftige Person dar. Und mit den anderen stellen wir die Beziehungsgeflechte nach.“ Insbesondere Schuldgefühle spielen häufig eine Rolle, wenn sich die erkrankte Person beispielsweise wünscht, im eigenen Zuhause zu sterben – aber die pflegenden Angehörigen irgendwann einfach nicht mehr können. In Gesprächskreisen mit anderen Betroffenen ist Raum, um solche Gefühle aufzuarbeiten. Laut Giese hilft es, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, „um zu merken: Ich bin damit nicht allein“.

Der Druck, der auf pflegenden Angehörigen lastet, wird durch den Fachkräftemangel im gesamten Pflegesektor noch verschärft. „Selbst wenn es vorne und hinten nicht mehr ausreicht, wollen viele Menschen ihre Angehörigen nicht ins Heim geben, weil die Zustände dort nicht optimal sind“, berichtet Julia Giese. Große Sorgen bereitet ihr dabei eine aktuelle Entwicklung: „Immer mehr pflegebedürftig Erkrankte erkundigen sich bei uns nach dem assistierten Suizid. Früher waren das einmalige Anfragen. Aber im letzten Jahr kamen allein schon sieben auf uns zu“, erzählt Giese kopfschüttelnd. „Ich kriege Bauchschmerzen, wenn ich darüber nachdenke, dass pflegebedürftige Menschen sterben möchten, weil sie im Pflegesystem keinen angemessenen Platz finden und ihre Angehörigen nicht mehr belasten wollen.“

Dass das Geld gerade im sozialen Bereich immer knapper wird, macht Julia Giese fassungslos. Sie sieht die aktuelle Pflegekrise als Spiegel der Gesellschaft: „Wie geht eine Gesellschaft mit alten Menschen um? Kann ich schmerz­ frei, gut versorgt bis an mein Lebensende sozial integriert in einer Gesellschaft alt werden? Wenn in der Pflege immer weiter gekürzt wird, zeigt das doch, dass unserer Gesellschaft alte, pflegebedürftige Menschen einfach nicht viel wert sind.“

Mit Blick auf die Zukunft zitiert Julia Giese besorgniserregende Zahlen: „Wir wissen, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in den nächsten Jahren rasant steigen wird. Die Demenzerkrankungen nehmen zu, die Krebserkrankungen, Herzinfarkte und Schlaganfälle. Wir haben die Statistiken. Um die Sozialsysteme auf diesen Anstieg vorzubereiten, müsste man genau jetzt gegensteuern. Aber das Gegenteil wird getan!“

Auch David Driese blickt sorgenvoll auf die nächsten Monate: „Wir warten tagein, tagaus auf das nächste Horrorszenario. Es ist klar, dass insbesondere die Senatsverwaltung in Berlin irgendwo sehr viel Geld einsparen muss. Und es ist auch klar, dass man in Berlin nicht an der Feuerwehr oder Polizei spart.“

Trotz dieser besorgniserregenden Aussichten hat die Kampagne „Wichtiger als Du denkst“ eindrucksvoll bewiesen, dass die freien Träger durchaus Mittel und Wege haben, um auf die Bedeutung ihrer Arbeit aufmerksam zu machen. Ein Gedankenexperiment: Sollten die 110.000 Angestellten und 50.000 Ehrenamtlichen streiken, würde ein Großteil der Berliner Kitas, Kliniken, Pflegeheime, Geflüchtetenunterkünfte und Wohnungslosenversorgung plötzlich ohne Personal dastehen. Oder anders ausgedrückt, wie es am 8. November auf einem Demonstrationsposter zu lesen war: „No Money, No Care“.

Kontakt

Julia Giese
Koordinatorin Kontaktstelle PflegeEngagement