Liebe Kolleg*innen, liebe Freund*innen, liebe Gäste,
ich freue mich, heute an diesem besonderen Tag vor euch stehen zu dürfen und etwas zum Thema des diesjährigen Welthumanist*innentags sagen zu können.
Ich mache 5 Punkte und werde ca. 25 Minuten sprechen. Der Vortrag ist weniger ein im strengen akademischen Sinne wissenschaftlicher Vortrag als vielmehr ein weltanschaulich inspiriertes Nachdenken, in Teilen durchaus etwas persönlich.
Die Sehnsucht nach Frieden ist für Humanist*innen etwas ganz Wesentliches und daher ein sehr schöner und passender Titel für einen Welthumanist*innentag. Wir wollen einfach keinen Krieg, nicht den auf der großen Weltbühne, nicht den Hass im eigenen Land, nicht die Kleinkriege in den verschiedenen sozialen Bezügen unseres Alltagslebens und auch nicht den inneren Krieg mit sich selbst.
Wir wollen das alles nicht und wir finden das schrecklich. Wir wollen Frieden, Respekt, Anteilnahme, Solidarität – übrigens gerade auch dann, wenn die Zeichen auf Sturm stehen, wenn es Konflikte gibt und wir uns streiten. Wir sehnen uns nach einem friedvollen Umgang miteinander und wenn es sich bei dieser Sehnsucht um eine „Sucht“ handeln sollte, dann gehört diese sicherlich zu den schönen „Süchten“ des menschlichen Lebens und wir dürfen ausgiebig konsumieren.
In der „Sucht“ steckt natürlich auch die Suche: Sehnsucht nach Frieden ist eine Suchbewegung und vermutlich glauben die meisten von uns nicht an das Erreichen eines „ewigen Friedens“, sondern gehen eher davon aus, dass die Suche nach Frieden ein beständiger Prozess ist, in dem es sowohl Friedensfortschritte geben kann als auch neue Herausforderungen warten.
Allein schon diese Sehnsucht nach Frieden zum Ausdruck zu bringen, ist eine wichtige humanistische Aktivität. Ich werde noch etwas mehr zu dieser Sehnsucht sagen, möchte dann aber auch einen Schritt weitergehen und etwas zu unserer Verantwortung für den Frieden sagen. Etwas zur Frage nach dem praktischen Tun, nach der Verwirklichung von Frieden.
1) Die globale Realität des Krieges
Auf der großen Weltbühne gibt es aktuell – je nach Zählung – 18-25 Kriege bzw. bewaffnete Konflikte. Kriege zwischen Staaten oder Bürgerkriege innerhalb von Staaten.
Sie befinden sich bis auf einen alle auf der Südhälfte des Globus. Nur der Krieg in der Ukraine spielt sich in eher nördlichen Gefilden ab.
Dem russischen Überfall auf die Ukraine widmet Europa ganz besondere Aufmerksamkeit, er ist sehr nah und hat vieles verändert. Wir reiben uns immer noch die Augen, hat Manuela Schmidt, die Präsidentin des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg, soeben ganz wunderbar gesagt.
Die anderen Kriege und Konflikte erhalten wenig bis kaum Aufmerksamkeit, manche gar keine.
„Es ist wieder Krieg in Europa“: das hören und lesen wir täglich. Und manchmal klingt es so, als sei das besonders schrecklich.
Es gibt kritische Kommentator*innen, die hier Eurozentrismus unterstellen, d.h. einen verengten und einseitigen Blick nur auf Europa.
Sie fragen kritisch: Ist ein Krieg in Europa etwa schlimmer als irgendwo auf der Südhälfte?
Oder noch etwas spitzer: Halten sich Europäer*innen etwa für besonders zivilisiert und sind deshalb so erstaunt, dass nun auch wieder Krieg in Europa ist?
Wenn wir heute hier von unserer Sehnsucht nach Frieden sprechen, dann kann damit sicherlich nicht nur gemeint sein: „Sehnsucht nach Frieden in Europa“.
Auch die anderen Orte dieser Welt, wo Menschen im Krieg ihr Leben oder ihre Heimat verlieren, verdienen unsere Aufmerksamkeit und Sehnsucht.
2) Bertha von Suttner: Hügelposition versus „Mittendrin“
In diesem Jahr ist viel von Bertha von Suttner die Rede. Begangen wird der 180. Geburtstag der ersten weiblichen Friedensnobelpreisträgerin, Pazifistin, Freidenkerin und Schriftstellerin.
Auch die Akademie widmet ihr ein „Humanistisches Porträt,“ in ihrer gleichnamigen Buchreihe und am 13. Oktober eine Tagung mit aktuellem Bezug.
Viel ist die Rede von ihrem berühmten Roman „Die Waffen nieder“ von 1889. So wie auf diesem Bild sah sie ungefähr aus, als sie diesen schrieb. Es wird mehr über dieses Buch gesprochen als dass es gelesen wird. Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, die Autorin selbst zu Wort kommen zu lassen.
4. Kapitel, die Protagonistin Martha stellt Berichte ihres Mannes Friedrich vor, der im Krieg ist: Es geht um die Hügelposition (S. 172).
„Auf einem Hügel oben, in einer Gruppe von Generälen und hohen Offizieren, mit einem Feldstecher am Auge: das ist die an ästhetischen Eindrücken ergiebigste Situation in einem Kriege. […].
Von der Hügelstation herab sieht man wahrlich ein Stück Kriegspoesie. Das Bild ist großartig und weit genug entfernt, um wie ein richtiges Gemälde zu wirken, ohne die Schrecken und Ekelhaftigkeiten der Wirklichkeit: kein fließendes Blut, kein Sterberöcheln – nichts als erhaben prächtige Linien- und Farbeneffekte. […]
Wie da die blitzenden Klingen, die flatternden Fahnen, die Uniformen aller Art, die sich bäumenden Rosse gleich wildempörten Fluten durcheinander wogen […]
Ja, so etwas mag zu Kriegsliedern begeistern!
Auch zu der Verfassung jener zeithistorischen Berichte, welche nach dem Feldzug veröffentlicht werden müssen, bietet die Hügelposition günstige Gelegenheit. Da läßt sich allenfalls mit einiger Richtigkeit erzählen: die Division X. stößt bei N. auf den Feind; – drängt ihn zurück; – erreicht das Gros der Armee; – starke feindliche Abteilungen zeigen sich an der linken Flanke des Korps usw. usw..
Hier klingt schon bei ihrem Mann Skepsis und auch ein wenig Ironie bzgl. der Hügelposition durch. Martha selbst ist ganz deutlich der Meinung, vom Hügel aus könne man wenig Glaubwürdiges über den Krieg erzählen, man müsse schon mittendrin sein, um das Wesentliche mitzubekommen.
Es folgen dann im Text eine ganze Reihe schrecklicher Schilderungen aus diesem Mittendrin. Ich habe länger darüber nachgedacht, auch davon hier und heute etwas vorzulesen. Humanismus bedeutet ja nicht, immer nur schöne Idealbilder vom Frieden zu zeichnen und die Schrecken des Krieges auszublenden. Aber heute ist unser Feiertag, ich erspare uns das.
Martha hat es sich nicht erspart. Sie begibt sich selbst an die Front. Sie will zu ihrem Mann, aber sie will auch in den Lazaretten helfen. Ihre Kenntnisse kommen nicht aus einem friedensethischen Lehnstuhl zu Hause am Kamin, sondern von der Front. So wie übrigens auch Bertha von Suttners Erkenntnisse von den Schlachtfeldern selbst stammen, wo sie als Kriegsberichterstatterin gearbeitet hat.
Nach ihren Erfahrungen im Mittendrin schreibt Martha (S. 203/204):
„Das Staunenswerteste ist […] daß Menschen einander in solche Lage bringen, – daß Menschen, die so etwas gesehen, nicht kniend hinsinken und den leidenschaftlichen Eid schwören, gegen den Krieg zu kriegen: daß sie nicht – wenn sie Fürsten sind – das Schwert von sich schleudern oder – wenn sie keine Macht besitzen – nicht fortan ihr ganzes Wirken, in Wort und Schrift, in Denken, Lehren und Handeln dem einen Ziele widmen: Die Waffen nieder!“
„Das Riesenweh, welches ich gesehen, hatte mir so tief ins eigene Herz geschnitten, daß mir war, als sollte es nie mehr ganz geheilt werden können. – Auch wenn ich meinen Friedrich wiederfände, auch wenn mir eine lange Zukunft von Glanz und Liebe beschert würde, könnte ich denn jemals vergessen, daß so viele andere meiner armen Menschenbrüder und Schwestern so unsägliches Unglück tragen müssen?“
Stehen wir aktuell vielleicht auch oben auf dem Hügel? Und sind unsere Gefühle und Gedanken zum gegenwärtigen Krieg nicht auch stark von der Hügelposition geprägt? Was wäre, wenn wir mittendrin wären? Würden wir noch mehr und bessere Waffen fordern? Oder würden wir viel vehementer für ein „Die Waffen nieder“ eintreten?
In einer der letzten Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit war ein bewegender Bericht über traumatisierte ukrainische Soldaten: Sie haben zumeist keine Worte für die erlebten Schrecken. Sie hadern damit, dass sie mitmachen müssen, dass sie töten und sich in Lebensgefahr bringen müssen. Manche haben Wut auf die – Zitat – „Scheißzivilisten“, die zu Hause bleiben dürfen. Solche Berichte aus dem aktuellen Mittendrin sind selten, noch seltener von russischen Soldaten.
Aber vergessen wir nicht – dies vielleicht ein Suttner ergänzender Aspekt: Die Hügelposition ist nicht ausschließlich von Nachteil. Sie ermöglicht auch Übersicht und Reflexion.
„Mittendrin“ ist man näher am Leid der Menschen, auf dem Hügel lässt sich aber vielleicht manchmal ruhiger nachdenken und urteilen.
3) Sehnsucht nach Frieden – ein humanistischer Grundimpuls
Die meisten Menschen wollen leben, sie wollen nicht sterben. Selbst wer seines Lebens überdrüssig ist – sei es wegen Krankheit, Schmerzen, Depression, Verlassenheit, Armut, Unterdrückung oder anderem – will zumeist eigentlich nicht sterben. Die leidende Person will lieber ein anderes Leben haben anstatt zu sterben, ein besseres Leben haben als das, welches sie aktuell zu ertragen hat.
Humanist*innen glauben in der Regel nicht an den Satz: „Das Beste kommt noch.“ Sie gehen davon aus: „Das Beste ist das gerade hier!“
Aber die meisten Menschen wollen leben und nicht sterben. Und sie fürchten schon die Risiken und Gefahren, die ein ganz normales menschliches Leben birgt: Erkrankung, Unfälle, Naturkatastrophen, Verbrechen und vieles mehr. Man fürchtet diese Dinge, die einen zufällig, unfreiwillig, hinterrücks ereilen können. Und als ob das alles nicht schon genug wäre, führen Menschen dann auch noch Kriege, in denen sie sich mit voller Absicht massenhaft umbringen.
Wieso werden Menschen in Kriege geschickt, ziehen los und bringen sich um, obgleich doch die meisten von ihnen gerne leben, lieber weiterleben wollen und das Leben doch ganz ohne Kriege schon genug Lebensgefahren und Lebensrisiken birgt?
Das ist im Grunde eine etwas schlichte Frage. Aber genau das habe ich mich als Jugendlicher und junger Mann gefragt. Ich habe den Kriegsdienst verweigert und viele Jahre lang andere Männer bei der Abfassung ihrer Verweigerung unterstützt. In den Jahren danach habe ich diesen Gedanken anscheinend aber vergessen und habe Verständnis für Gründe entwickelt, warum in Ausnahmefällen vielleicht doch Waffengewalt notwendig ist: das historische Beispiel des Nationalsozialismus, oder nach dem Kalten Krieg bei den kontrovers diskutierten Militäreinsätzen gegen Terrorismus oder für Menschenrechte.
Vielleicht bedeutet das „Erwachsenwerden“, vielleicht aber ist Erwachsenwerden nicht ausschließlich toll.
In den letzten Monaten habe ich mich wieder an diese schlichte Frage von früher erinnert.
Wieso werden Menschen in Kriege geschickt, ziehen los und bringen sich mit voller Absicht massenhaft um, obgleich doch die meisten von ihnen gerne leben, lieber weiterleben wollen und das Leben doch ganz ohne Kriege schon genug Lebensgefahren und Lebensrisiken birgt?
Und vielleicht kann man sagen, dass diese einfache Nachfrage eine Art und Weise ist, wie man den humanistischen Grundimpuls der Sehnsucht nach Frieden formulieren kann. Es gibt aber sicherlich noch andere.
4) Ukraine – Humanismus hat ein weites Herz
Russland hat die Ukraine überfallen. In einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg hat Russland ukrainische Gebiete besetzt. Russland bombardiert täglich die ukrainische Zivilbevölkerung. Jeden Tag sterben ukrainische Frauen, Männer und Kinder und es sterben auch russische Soldaten, zumeist zwangsrekrutiert aus abgelegenen Gebieten des Landes. Täglich leben Ukrainer*innen in Angst und verlieren ihre Wohnungen oder Häuser. Der „Westen“, die EU und NATO, allen voran die USA, unterstützen die Verteidigung der Ukrainer nicht nur ideell, sondern mit umfänglichen Waffenlieferungen. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Für die deutsche Bundeswehr wurde ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Da hat man in unterfinanzierten anderen Bereichen – Kitas, Schulen, soziale Projekte, Pflege usw. – schwer geschluckt. Die westlichen Länder rüsten auf und steigern massiv ihre Verteidigungsausgaben.
Für Humanist*innen ist diese Situation eine schwierige Herausforderung. Für viele ist sie ein kaum zu ertragendes Dilemma. Wir wollen keinen Krieg, wir wollen keine Aufrüstung, wir wollen keine Waffenlieferungen. Wir wollen aber auch nicht die Menschen eines überfallenden Landes im Stich lassen, wir wollen nicht, dass ein Land wie Russland brutale Rechtsbrüche begeht und damit durchkommt. Wir wollen das alles nicht, aber es sieht sehr danach aus, als ob wir etwas davon in Kauf nehmen müssen.
Für viele Humanist*innen ist die militärische Unterstützung der Ukraine das kleinere Übel. Sie bejahen das Recht der Ukraine auf Verteidigung und Unabhängigkeit – wenn es nicht anders geht, dann leider auch mit Waffen der NATO-Länder. Viele gehen davon aus, dass Russland weitere Eroberungskriege führen wird, wenn ihm jetzt nicht Einhalt geboten wird. Sie befürchten weitere Tote, Verletzte, Vertriebene und Zerstörungen. Sie befürchten, dass Russland sein repressives undemokratisches Regime in weiteren eroberten Gebieten etablieren wird und die Menschen dort in Unfreiheit leben müssen. Mit den Waffenlieferungen verbinden sie die Hoffnung, den Krieg im Zaum zu halten, Russland zum Rückzug oder zu Verhandlungen zu zwingen und weitere Ausdehnungen des Krieges zu verhindern. Viele Humanist*innen betonen diese wehrhafte Seite des Humanismus im Ausnahmefall, als Ultima Ratio im Rahmen eines verantwortungsethischen Pazifismus.
Manche Humanist*innen werden mit dieser Darstellung, wie ich sie bisher gegeben habe, nicht einverstanden sein. Sie werden das womöglich sogar ärgerlich finden. Manche Humanist*innen sehen die Rolle des Westen deutlich kritischer. Sie verweisen auf die Vorgeschichte des Krieges und bemängeln, dass man Russland nach dem Ende des Kalten Krieges nicht auf Augenhöhe in ein gemeinsames europäisches Sicherheitssystem eingebunden hätte, sondern stattdessen in Siegermentalität über russische Sicherheitsinteressen hinweggegangen sei. Sie sind der Ansicht, dass der Krieg hätte verhindert werden können oder sogar, dass er schon im letzten Jahr hätte beendet werden können, wenn nicht westliche Staaten wie die USA ein Interesse daran hätten, Russland massiv zurechtzustutzen und als globale Macht von der Weltbühne zu verbannen. Auch die Ukraine wird von dieser Seite kritischer gesehen, sie sei eben auch keine Demokratie, beherrscht von korrupten Oligarchen und auch nicht bereit, die Rechte der russischen Minderheit im Land zu achten.
Mit dieser jetzt zuletzt gegebenen Darstellung werden nun wieder viele andere Humanist*innen nicht einverstanden sein, ja, sie werden diese womöglich sogar ärgerlich finden. Unter ihnen sind höchstwahrscheinlich auch manche, die sagen werden, ganz egal wie die Vorgeschichte war: Der Krieg muss aufhören, keine weiteren Waffenlieferungen. Waffenstillstand. Und intensive Bemühungen starten für eine Verhandlungslösung. Sie wollen, dass das Töten und Zerstören sofort aufhört und manche befürchten die Ausweitung auf einen atomaren Konflikt. Sie sind der Ansicht, dass niemand sich intensiv genug um Frieden bemüht: Die deutsche Regierung nicht, die Parteien und die Öffentlichkeit nicht, EU und Nato nicht, die Ukraine nicht und schon gar nicht der Angreifer Russland, der wahrlich dran wäre, hier einen Anfang zu machen.
Auch mit dieser Haltung werden nun selbstverständlich wieder viele andere Humanist*innen nicht einverstanden sein, ja, sie werden diese womöglich sogar ärgerlich finden. Der aktuelle Krieg bietet also auch unter Humanist*innen mannigfaltigen Anlass zur Kontroverse. Ja, ausreichend Anlass dafür, mit der Meinung des anderen nicht einverstanden zu sein und sich vielleicht sogar ordentlich darüber zu ärgern.
Oftmals aber wird dann leider die Ansicht des anderen herabgewürdigt: „Du Kriegstreiber“; du „Putinversteher“, „du bist naiv“; „dir sind die Ukrainer*innen egal“; „du bist blind auf dem westlichen Auge“ usw.
Ich möchte vorschlagen, das sein zu lassen. Haben wir es hier nicht mit einer politisch komplexen und ethisch zwiespältigen Gemengelage zu tun? Mit einer Gemengelage, in der es nicht nur ein einfaches richtig oder falsch gibt, sondern in der unterschiedlich nuancierte Positionen mit jeweils guten oder zumindest wohlwollenden Gründen vertreten werden können? Eine Gemengelage, in der die Meinung des anderen anders ist, aber nicht zwingend unzulässig und unbegründet?
Es gibt Themen und Konflikte, die sind so. Das sind keine klaren Fälle. Wenn mir zum Beispiel jemand sagt, er finde es richtig, andere Menschen zu foltern, wenn ihm danach ist, dann ist das für mich ein klarer Fall. Ich finde es nicht richtig, andere Menschen zu foltern und ich diskreditiere seine Ansicht als falsch, unmoralisch, nicht humanistisch. Frage wie diese:
- Wann ist Waffengewalt das kleinere Übel?
- In welchen Ausnahmesituationen ist Waffengewalt gerechtfertigt, weil der Frieden inakzeptabel ungerecht wäre?,
solche Fragen sind keine einfachen Fragen, keine klaren Fälle.
Wir ringen ja intern auch bei anderen Themen um Positionen, mindestens im Detail: Sterbehilfe, Abtreibung, „Wokeness“, Neutralitätsgesetz, Seelsorge und usw. Auch das sind oftmals keine einfachen klaren Fälle. Da können Humanist*innen sehr wohl auch unterschiedlicher Meinung ein, ohne dass man die Meinung des anderen gleich nicht humanistisch oder unmoralisch finden muss.
Humanismus hat ein weites Herz: Hier können sich viele Verschiedene versammeln. Wir können uns über Gemeinsamkeiten und Vielfalt freuen, ja, wir sollten sie beide genießen. Wir können unsere Differenzen ernsthaft und leidenschaftlich austragen – auch wenn das nicht immer der reine Genuss ist, sondern oftmals anstrengend. Und es wird in humanistischen Organisationen auch immer Mehrheitspositionen geben, die sich durchsetzen und mit denen andere dann unglücklich sind.
Erträglicher und menschlicher aber werden solche Konflikte um Positionen, wenn wir wechselseitig darauf verzichten, die anderen als Gegner wahrzunehmen und ihre Meinungen vorschnell herabzuwürdigen.
5) Verantwortung für den Frieden
Ich will abschließend noch einen Schritt weitergehen: von der Sehnsucht nach Frieden zur Verantwortung für den Frieden, d.h. zur Praxis.
Pazifismus bedeutet wörtlich: Frieden machen. Pazifismus wird aber gerne missverstanden als „die andere Wange hinhalten, egal was passiert“. Es bedeutet zunächst aber nichts weiter als ein Bekenntnis zum praktischen Engagement für den Frieden: Frieden machen.
Ich habe am Anfang die Karten mit den aktuellen globalen Friedensschauplätzen gezeigt. Dort herrscht militärische Gewalt. Frieden machen bedeutet, angesichts drohender oder bestehender kriegerischer Auseinandersetzungen. Dazu gehört primär, sich konsequent für friedliche Konfliktlösungen einzusetzen – selbst dann, wenn es aussichtslos erscheint.
Frieden ist aber mehr als „nur“ die Abwesenheit von kriegerischer Gewalt. Auch das hat Manuela Schmidt vorhin schon mit Spinoza perfekt auf den Punkt gebracht, so dass ich dazu nicht viel zu sagen brauche.
Überall auf der Welt, wo Menschen hungern, in Armut leben oder auf der Flucht sind, wo Menschen unterdrückt werden und sich nicht frei entfalten können, überall dort lässt sich nur schwer sagen, diese Menschen lebten in Frieden. Nein, dies sind keine friedlichen Lebensumstände und ihnen gilt unser Augenmerk genauso wie all den gewalttätigen Konflikten. Zusätzlich auch deshalb, weil gerade solche Umstände oftmals Kriege verursachen.
Humanistische Verantwortung für Frieden wird dadurch natürlich zu einem ganz schön großen Paket. Friedensarbeit beginnt aber nicht erst auf der großen internationalen Bühne. Friedensarbeit beginnt bei einem selbst, in den privaten und beruflichen Beziehungen, im Dorf, im Kiez, in der Stadt.
Auf unserem Festival heute wollen wir der wichtigen Friedensarbeit derjenigen Raum geben, die engagiert im Kleinen und Lokalen wirken. Wir wollen ihr praktisches, oft ehrenamtliches, Tun würdigen und wertschätzen.
Wenn wir – nur ein Beispiel – Flüchtlinge in unseren Städten und Kommunen aufnehmen, dann ist das eine praktische und lokale Art und Weise, Verantwortung für den Frieden zu übernehmen. So wie es – wie ich finde richtungsweisend – der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg 2022 in seinem verbandseigenen Hotel gemacht hat, übrigens mit Hilfe einer großen Anzahl neu interessierter Ehrenamtlicher. Die vielen Bereiche des praktischen Humanismus der Humanistischen Verbände sind auch Friedensarbeit.
Die vielen Einzelpersonen und Organisationen, die hier und heute noch ihr Engagement vorstellen werden, beteiligen sich auf unterschiedliche Weise daran, Frieden zu machen. Diejenigen, die Migrant*innen und Flüchtlinge unterstützen und nachbarschaftliche und interkulturelle Begegnung ermöglichen. Diejenigen, die sich gegen die verschiedenen Formen von Diskriminierung engagieren.
Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften – darüber wird heute Nachmittag gesprochen – können sich z.B. auf politischer Ebene für eine humane Flüchtlings- und Einwanderungspolitik einsetzen, die gekoppelt ist mit einer Politik zur Verbesserung der Lebensumstände in den Flucht- und Auswanderungsländern.
Und zum Ende hin, möchte ich noch etwas kleinteiliger werden:
Es gibt einen schönen und sehr ambitionierten Gewaltbegriff beim französischen Philosophen Emmanuel Levinas:
„Gewaltsam ist jede Handlung, bei der man handelt, als wäre man allein: als wäre der Rest des Universums nur dazu da, die Handlung in Empfang zu nehmen […].“ (Levinas 1996, S. 15)
Das Buch trägt bezeichnenderweise den Titel „Schwierige Freiheit“.
Das Zitat sagt: Kein Frieden ohne Berücksichtigung der anderen, Menschen und Lebewesen, der Umwelt. Das ist ein hoher Anspruch. Man wird das nicht immer so leben können. Man wird das üben müssen, nicht einmal, nicht zweimal, sondern immer wieder, sein Leben lang. Üben wir also weiter.
Schließen möchte ich aber mit einem anderen Zitat. Ich habe ein englisches ausgewählt. Ich möchte mich auf diese Weise bei den beiden Übersetzerinnen bedanken und zumindest einen minimalen Moment Verschnaufpause schenken.
Ein Satz von Ian McLaren, mit einer ganz bewusst ganz schlichten Message, vielleicht sogar etwas naiv und nicht vollständig erwachsen, die im Grunde genommen aber eigentlich alles sagt.
„Be kind; everyone you meet is fighting a hard battle.“
„Sei freundlich, denn jedes Wesen, dass du triffst, kämpft eine schwere Schlacht.“
In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen schönen Welthumanist*innentag 2023.
Vielen Dank.