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  • Dr. Horst Groschopp 2011 auf einer Tagung der Humanistischen Akademie Deutschlands | Foto: Thomas Hummitzsch
    Dr. Horst Groschopp 2011 auf einer Tagung der Humanistischen Akademie Deutschlands | Foto: Thomas Hummitzsch

"Keine Gesellschaft hält dauerhaft die Diskrepanz zwischen Minderheitenkirche und Mehrheitenanspruch aus"

Horst Groschopp, vor nicht allzu langer Zeit erschien das Handbuch "Humanismus: Grundbegriffe". Was wissen wir seitdem über den Humanismus, was wir vorher nicht wussten?

Das 2016 bei de Gruyter erschienene Handbuch stellt wissenschaftliche Befunde zu den Grundkategorien des Humanismus zusammen. "Humanismus" wird darin – und auf der Homepage www.humanismus-grundbegriffe.de – umfassend bestimmt. Als eine kulturelle Bewegung, ein Bildungsprogramm, eine Epoche, als Tradition, als Weltanschauung, eine Form von praktischer Philosophie, politische Grundhaltung für die Durchsetzung der Menschenrechte sowie als ein Konzept von Barmherzigkeit, das für humanitäre Praxis eintritt.

Bestimmte Begriffe – auch das ist wichtig – wurden nicht als grundlegend bestimmt. Religion beispielsweise nicht, Religionskritik, Religionsfreiheit und Toleranz hingegen schon. Demokratie und Frieden ebenfalls nicht, dafür aber Zweifel und Seelsorge. "Säkularisierung" wird, obwohl kategiorial definiert, nicht als für den Humanismus maßgeblich genannt. Denn was am Humanismus soll auch wovon "säkularisiert" sein?

Gut, darüber kann man streiten. Nun gibt es die neue Reihe der "Humanismusperspektiven". Geht es bei dieser auch darum, diesen Streit zu führen?

Nun, ich hatte nach meinem Ausscheiden aus der Humanistischen Akademie eigentlich mit dem ganzen Stoff abgeschlossen. Dann fühlte ich mich aber durch einige Äußerungen aus dem Humanistischen Verband herausgefordert, mich "theoretisch" zu melden. Dazu kam, dass mich Menschen aus dem HVD ermunterten, mich grundsätzlicher zu äußern.

Worin liegt denn der Kern der Kritik?

Ich meine, man kann nach dem Erscheinen des Grundbegriffe-Handbuches eigentlich nicht so tun, als sei die humanistische Gedankenwelt noch die alte. Es fehlt mir an konzeptioneller Weiterentwicklung auf der theoretischen Seite, die der Praxis als Fundament und Basis dienen muss.

Dr. Andreas Fincke ist einer der profiliertesten Kenner der Konfessionsfreien innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland | Foto: THomas Hummitzsch
Dr. Andreas Fincke ist einer der profiliertesten Kenner der Konfessionsfreien innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland | Foto: THomas Hummitzsch

Kann man das Konzept von "Humanismusperspektiven" – es greift ja eine gleichnamige Publikation von perspektivischen Grundsatztexten aus dem Jahr 2010 auf – vom Ende her betrachten? Sind wir als Gesellschaft mit Gott fertig?

Ob wir das sind, kann ich nicht sagen, aber vielleicht sollte man die Lektüre tatsächlich mit Band 3 beginnen. Da geht es um eine Sachanalyse. Mit seiner Monographie bietet Dr. Andreas Fincke eine erste kultursoziologische Gesamtbetrachtung der "säkularen Szene" in Deutschland inklusive der dort handelnden atheistischen, freigeistigen und humanistischen Organisationen. Er beschreibt ihre Strukturen, Ziele, Programme und maßgeblichen Personen. Und er beschreibt die Folgen zunehmender Konfessionslosigkeit aus seiner Perspektive.

Dr. Fincke befasst sich mit "Konfessionslosigkeit, Atheismus und [dem] säkularen Humanismus in Deutschland" aus kirchennaher Sicht. Brauchen die Säkularen einen Pfarrer oder gar Seelsorger, um sich analysieren zu lassen?

Dr. Fincke ist seit Jahren ein aufmerksamer Beobachter der Szene der Konfessionsfreien. Ich kann sagen, seine Studie ist gut lesbar und erkenntnisreich. Dennoch ist das Bild des Seelsorgers ganz treffend, gerade weil in der "Szene" – trotz der Neufassung des Begriffs "Seelsorge" im obigen "Handbuch" – die alte freidenkerische Meinung fortwirkt, dass, wo es keine Seele gibt, auch keine Seelsorge möglich ist. Obwohl jede_r weiß, was damit gemeint ist, werden wir mit dem Begriff der "humanistischen Beratung" traktiert. Die Philosophen sind sich sicher, dass es keine Seele gibt. Der Humanismus ist aber keine Philosophie. Dieses Bild vom "Seelsorger" hat noch eine ganz andere Dimension: Der Autor leidet nachlesbar daran, dass seine Kirche oftmals so tut, als gäbe es die Konfessionsfreien und die ihnen zuzurechnenden Verbände gar nicht. Und umgekehrt strotzen diese oft in ihren Verkündigungen von einer Überhöhung der Selbstbedeutung, dass einem die Seele weh tut.

Dr. Finkes Studie ist in weiten Teilen eine Perspektive auf den Humanismus, weniger eine "Humanismusperspektive"? Warum erscheint das Buch dennoch in dieser Reihe?

Ich frage mal zurück: In welcher Reihe denn sonst? Es hat sich historisch so ergeben, dass es der organisierte Humanismus hierzulande mit den alten freigeistigen Verbänden zu tun hat, dass er dort hineinzuwachsen und diese zu verändern versucht, aber immer wieder an freidenkerischer Dogmatik scheitert, zumindest gebremst wird. Das spitzt sich dann in der Konsequenz in Fragen nach der Strategie "Aufbau" versus "Abbau" der Privilegien zu. Im Band "Humanismus – Laizismus – Geschichtskultur" von 2013 ist das kompakt nachlesbar.

Dr. Thomas Heinrichs gehört zu den wenigen ausgewiesenen Experten im Religions- und Weltanschauungsrecht
Dr. Thomas Heinrichs gehört zu den wenigen ausgewiesenen Experten im Religions- und Weltanschauungsrecht

Ich würde gern noch über den zweiten Band der Reihe sprechen. Was macht das Buch "Religion und Weltanschauung im Recht" von unserem Präsidiumsmitglied Dr. Thomas Heinrichs zu einer "Humanismusperspektive"?

Humanismus existiert in diversen "Funktionen" und "Gestalten". Dazu zählen auch humanisierende Gesetze und Rechtsregeln. Die Humanistische Akademie hatte bereits mit dem Band "Konfessionsfreie und Grundgesetz" danach Ausschau gehalten, was juristisch gilt beziehungsweise geändert werden sollte, wenn der HVD mit seiner "konfessionellen" Politik der Gleichbehandlung neben den Religionsgesellschaften stärker wird. Das Ergebnis erweckte Erstaunen und Unverständnis, besonders im HVD selbst.

Derzeit, vor allem wegen der Muslime, wird erneut viel über die Notwendigkeit von Reformen des Religions- und Weltanschauungsrechts geredet. Einigkeit herrscht darin, dass es solche Reformen geben muss. Insbesondere um die faktische Dominanz der Kirchen zu beenden. Dann endet aber auch schon die Einigkeit und der Streit um die Änderungsrichtung beginnt.

Das "Ende der Kirchendominanz" steht auch im Untertitel des Buches. Ist denn die Gesellschaft dafür schon bereit?

Wenn man, wie etwa bei mir, selbst in der fünften Generation "ungläubig" und in der vierten "konfessionsfrei" ist, dann hat man sich von nichts Kirchlichem mehr zu befreien: Gott geht unsereins nichts an, schon gar nicht familientraditionell. Anderen wird es mit der Zeit ähnlich gehen. Wissenschaftliche Literatur spricht davon, dass der Westen hier allmählich wie der Osten werde. Andreas Fincke etwa erstaunt und befremdet dieser alltägliche Atheismus, an den wir Humanist_innen gewöhnt sind. Auf Dauer hält keine Gesellschaft diese Diskrepanz zwischen "Minderheitenkirche" und "Mehrheitenanspruch" aus. Da bin ich optimistisch.

Das juristische Hin und Her dieser Diskrepanz kann man bei Heinrichs nachlesen. Und weil er auch ein ausgewiesener Philosoph ist, wird dabei deutlich, dass sich das Juristische in den Widersprüchen der Gesellschaft vollzieht und dabei mal hinterherhinkt und dann wieder vorprescht. Dass bei dieser Darstellung auch immer die Frage mitschwingt, was das für eine Weltanschauungsgemeinschaft wie den HVD heißt, gehört zu den Vorzügen dieses Bandes.

Was heißt das konkret?

Einige in der säkularen Szene beschränken das Staat-Kirche-Religion-Gesellschaft-Problem auf die "Staatsleistungen" und auf die Zahlungen, die aus dem Reichsdeputationsschluss von 1803 folgern. Dabei sind heute die Verflechtungen viel komplexer und der HVD ist – wenngleich nicht alle seine Verbände – mit bescheideneren Anteilen an der "Kuchenverteilung" beteiligt. Heinrichs erwartet vom HVD deshalb kein Reförmchen, sondern die völlige Akzeptanz der wirklichen Befindlichkeit einiger seiner wichtigsten Verbände, nämlich eine Abkehr vom alten Verständnis der völligen Trennung von Staat und Kirche, erzwungen von der eigenen "konfessionellen" Praxis.

Wird Andreas Finckes Band der letzte in der Reihe "Humanismusperspektiven" sein?

Nein, ein vierter Band ist in Arbeit und erscheint mutmaßlich Anfang 2018. "‘Humanismus’ im wörtlichen Gebrauch" wird eine Studie zur aktuellen und historischen Begriffsverwendung im deutschsprachigen Raum. Es ist schon erstaunlich, wie oft und in welcher Breite das Wort "Humanismus" verwendet wird, besonders, wenn man dann noch die Adjektive einbezieht.

Wir sind gespannt. Vielen Dank für das Gespräch und das kritisch-konstruktive Einmischen in die humanistischen Debatten.

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