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  • Das Berliner Neutralitätsgesetz untersagt es Angestellten im öffentlichen Dienst – also Lehrer_innen, Polizist_innen etc. – während der Arbeitszeit religiöse Symbole jeglicher Art zu tragen.
    Foto: Konstantin BörnerDas Berliner Neutralitätsgesetz untersagt es Angestellten im öffentlichen Dienst – also Lehrer_innen, Polizist_innen etc. – während der Arbeitszeit religiöse Symbole jeglicher Art zu tragen.

Das Berliner Neutralitätsgesetz: Ein Blick hinter die Kulissen im Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg

Wohl keine andere verbandsinterne Debatte wurde im Jahr 2019 so emotional geführt wie die über das Berliner Neutralitätsgesetz. In einer Podiumsdiskussion konnten Befürworter_innen und Gegner_innen des Gesetzes ihre Positionen austauschen – die Debatte zeigt, wie komplex die Positionierung im Humanismus als Weltanschauung ist.

"Die Debatte hat mich in der Auffassung gefestigt, dass Humanismus praktisch sein muss", erzählt SIMON SCHÜTZE. Der 23-Jährige ist Beisitzer im Präsidium des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg und Mitglied des Vorstandes der Jungen Humanist_innen (JuHus) in Berlin. Während der Debatte über das Berliner Neutralitätsgesetz hat er persönlich einiges über seine Beziehung zum Humanismus gelernt: "Man kann versuchen, die Welt durch Humanismus zu erklären und dadurch bestimmte Phänomene oder gesellschaftliche Strömungen zu deuten – so ähnlich, wie Menschen es mit Religion gemacht haben. Aber ich finde wichtiger, dass man humanistisch handelt. Oder eben nicht handelt, zum Beispiel indem man anderen Menschen nicht vorschreibt, was sie bei der Arbeit zu tragen haben, sondern dass man sie einfach mal Mensch sein lässt und ihrer Professionalität vertraut."

Das Berliner Neutralitätsgesetz wurde auch im Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg 2019 rege diskutiert. Es untersagt Angestellten im öffentlichen Dienst – also Lehrer_innen, Polizist_innen etc. – während der Arbeitszeit religiöse Symbole jeglicher Art zu tragen. Um eine einheitliche Verbandsposition zum Gesetz zu formulieren, stimmten die Mitglieder des Verbandes auf einer Versammlung darüber ab. Zwar sprach sich dort eine breite Mehrheit für das Gesetz aus, doch die Jungen Humanist_innen argumentierten leidenschaftlich gegen das Gesetz. "Die Diskussion war hitzig", erinnert sich Simon Schütze. "Es war auch niemand da, den das Neutralitätsgesetz betroffen hätte. Wir als Junge Humanist_innen fanden es blöd, über die Rechte von Menschen zu diskutieren, die gar nicht anwesend sind." Aus diesem Grund – und um festzustellen, ob es im Jugendverband eine einheitliche Position zum Gesetz gab – organisierten die Jungen Humanist_innen eine öffentliche Podiumsdiskussion. Dabei unterstützte sie DR. BRUNO OSUCH, der beim Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg für die Kontakte in die Politik verantwortlich ist.

Auch für Osuch war eine größere Diskussion zum Thema unerlässlich, wie er erzählt: "Als ich anfing, mit den jungen Leuten zu diskutieren, war ich irritiert, weil die alle gegen das Neutralitätsgesetz waren. Da habe ich die Welt nicht mehr verstanden, weil der Humanistische Verband aus der Aufklärung und der Arbeiter_innenbewegung kommt. Er war schon immer dafür, dass Staat und Kirche getrennt sind und dass deshalb auch keine religiösen Symbole in die öffentlichen Einrichtungen reinsollen." Danach habe er mit jungen Politiker_innen aus dem Abgeordnetenhaus gesprochen, die das Neutralitätsgesetz ebenfalls ablehnten. "Da dachte ich ‚Huch! Wir müssen reden!‘ Und das war mein Motiv für die Teilnahme an der Diskussion."

Showdown im Mehringhof

Am 18. November 2019 fand die Podiumsdiskussion über das Berliner Neutralitätsgesetz im Mehringhof in Kreuzberg statt. Um eine möglichst faire Diskussion zu ermöglichen, arbeiteten die JuHus als Organisator_innen mit "stuhlkreis_revolte" zusammen, einem Kollektiv aus Moderator_innen, die kritische Diskussionen professionell begleiten. Doch selbst mit diesen erfahrenen Moderator_innen sei die Diskussion an sich verbesserungswürdig gewesen, erinnert sich JuHu-Vorstandsmitglied Simon Schütze: "Man hat schon während der Diskussion ohne Publikumsbeteiligung gemerkt, wie sich die Stimmung hochschaukelt. Wir hätten das früher maßregeln müssen, weil die Argumente irgendwann doch sehr persönlich wurden."

Im kritischen Rückblick, erzählt der JuHu, sei die Debatte vielleicht zu groß aufgezogen worden: "Wir hätten die Diskussion auf die Anwendungsgebiete [des Neutralitätsgesetzes, Anm. d. A.] beschränken müssen, also religiöse Symbole in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen. Das sehe ich im Rückblick ziemlich kritisch."

Aus Bruno Osuchs Sicht sei die Diskussion hingegen sehr gut verlaufen, er habe viel über die unterschiedlichen Meinungen im Verband gelernt: "Die Meinungspluralität ist größer als ich dachte. Gerade unter den jungen Leuten ist die Bandbreite sehr, sehr groß. Die sehen das Thema aber auch aus einer ganz anderen Perspektive."

Diskussion zwischen den Generationen

Auffällig an der Debatte sei gewesen, dass sich Menschen aus allen Altersschichten daran beteiligt hätten, obwohl die Podiumsdiskussion von den JuHus organisiert worden sei, erzählt Simon Schütze. Das habe vor allem an der Werbung der Podiumsteilnehmer_innen im persönlichen Umfeld gelegen. "Wir haben denen gesagt, sie sollen die Veranstaltung bewerben, damit wir möglichst diverse Leute im Publikum haben." Und so diskutierte ein breites Spektrum an JuHus, Lebenskundelehrer_innen und Menschen aus den migrantischen Communities über das Neutralitätsgesetz.

Für den JuHu-Vorstand war die Diskussion zumindest ein Teilerfolg: "Vielen Menschen, die dem Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg nahestehen, wurde zum ersten Mal gespiegelt, was denn die Jugend, die einen nicht unwesentlichen Teil des Humanistischen Verbandes ausmacht, überhaupt über die Positionen denkt, die offensichtlich für Viele aus dem Erwachsenenverband selbstverständlich sind." Das sei eines der Ziele der JuHus gewesen. "Wir sind Teil des HVD, und unsere Meinung ist damit auch relevant. Und nur, weil wir auf der Mitgliederversammlung nicht so viele junge Menschen dazu motivieren können, fünf Stunden über verbandspolitische Themen zu sprechen, heißt das nicht, dass wir nicht weniger gefestigt sind in unseren Meinungen", erzählt Schütze.

Auch ihn habe die Diskussion weitergebracht. "Vor allem bei den Argumenten von freidenkerisch motivierten Humanist_innen habe ich mir dann überlegt, ob man nicht doch die Realität von Frauen in religiösen Communities kritischer hinterfragen müsste." Und auch Bruno Osuch habe viel aus der Diskussion mitgenommen: "Ich habe mehr Verständnis für das Anliegen der jungen Leute, die das Neutralitätsgesetz ablehnen. Das hat sich verändert."

Debatte in die Zukunft tragen

Generell sei der frische Wind, den die JuHus in den Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg bringen, wichtig, um sich weiterzuentwickeln: "Sie provozieren uns, über unsere Positionen nachzudenken und diese neu zu debattieren", erzählt der Fachmann für politische Kommunikation.

Den JuHu-Vorstand Simon Schütze freut es natürlich, dass die Jungen Humanist_innen für Bewegung in verbandsinternen Debatten sorgen: "Wir versuchen schon, Druck zu machen. Ich hoffe, das kommt an. Nach der Diskussion hat mir ein Kollege im Präsidium erzählt, dass er seine eigenen Positionen überdacht und sich aus neuen Quellen dazu belesen hat. Das ist schon cool."

Sowohl für Osuch als auch für Schütze zeigt die Debatte um das Neutralitätsgesetz, wie wichtig die Auseinandersetzung mit den eigenen Positionen im Verband ist. So erzählt der ehemalige Verbandschef, dass ihm schon die Organisation der Podiumsdiskussion und die damit verbundene Planung viel Spaß gemacht habe: "Ich wünsche mir, dass das weitergeht. Dass wir intern viel mehr diskutieren. Und dazu sollten wir auch interne Foren eröffnen. Die Podiumsdiskussion war ja eine öffentliche Diskussion, ein großes Ding im rappelvollen Mehringhof. Aber genau diese Auseinandersetzung brauchen wir auch intern, um dann noch freier reden zu können."

Für Simon Schütze hat die Debatte außerdem die Diversität des Humanismus als Weltanschauung gezeigt: "Humanismus ist ganz cool, weil man ihn auf viele Arten leben kann. Er kann sehr auf außerparlamentarischen politischen Aktionismus fokussiert sein, oder eher in der Freidenker_innentradition auf eine Säkularisierung der politischen Institutionen abzielen. Das ist alles legitim und kann nebeneinander existieren. Im Jugendverband ist es einfach nur wichtig, dass wir jungen Menschen vermitteln, keine Angst vor Fehlern zu haben. Und dazu zählt auch, Meinungen zu vertreten, die unter Umständen nicht so ausgereift oder kritisch reflektiert sind – aber dann darüber zu reden."

Die Podiumsdiskussion im Mehringhof war die erste Auseinandersetzung dieser Art, die die JuHus organisiert haben. Für die Meinungspluralität innerhalb des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg und für dessen progressive Ausrichtung werden interne Debatten in Zukunft eine größere Rolle spielen. Denn nur wer seine eigenen Positionen hinterfragen kann, ist wirklich bereit für den Weg in eine fortschrittlichere Gesellschaft.

Kontakt

Bild des Benutzers Dr. Bruno Osuch
Dr. Bruno Osuch
Politische Kommunikation im Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg KdöR
0175 40 47 292

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