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Tagunsgbericht | 100 Jahre weltliche Schule - Demokratiepädagogik damals und heute

(c) Edgar Chaparro | unsplash.com
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"Du wirst gebraucht" - 100 Jahre weltliche Schulreform

Eine Tagung der Humanistischen Akademie in Kooperation mit dem August Bebel Institut und dem Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg KdöR

Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Eröffnung der ersten weltlichen Schule in Berlin fand am 28. und 29. Mai die Web-Tagung "100 Jahre weltliche Schule – Demokratiepädagogik damals und heute" statt. Sie stand im Kontext der gemeinsamen Feierlichkeiten der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, des Bezirksamts Neukölln – Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport sowie des Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg KdöR. Pandemiebedingt mussten die Veranstaltungen im letzten Jahr verschoben werden.

Am 15. Mai 1920 eröffnete die erste sogenannte "bekenntnisfreie weltliche Schule" in Berlin. Dort versammelten sich Kinder, deren Eltern sie vom Religionsunterricht abgemeldet hatten. Möglich geworden war dies durch die Weimarer Reichsverfassung von 1919: die Beendigung der kirchlichen Schulaufsicht zugunsten einer rein staatlichen und das grundsätzliche Elternrecht zur Abmeldung in der Volkschule. Von diesem Recht wurde durchaus rege Gebrauch gemacht: 1921 gab es bereits 16 solcher Schulen in Berlin, 1930 dann 56, bevor sie allesamt von den Nationalsozialisten wieder geschlossen wurden. Hatten die weltlichen Schulen zu Beginn nur die Besonderheit, dass es an ihnen keinen Religionsunterricht und stattdessen bald einen nichtreligiösen "Moralunterricht" (z.B. Lebenskunde) gab, entwickelten sich diese Schulen im Laufe des Jahrzehnts zu schulreformerischen Versuchsfeldern und zu einem Teil der reformpädagogischen Bewegung. Die meisten waren als sogenannte Lebensgemeinschaftsschulen anerkannt, als Versuchsvolksschulen mit antiautoritärer Erziehung.

Die Tagung wollte zweierlei in Erkundung bringen: Welchen Beitrag zur Verweltlichung des Schulwesens in Deutschland haben diese Schulen geleistet? Lassen sich in diesen Schulen erste demokratiepädagogische Bestrebungen ausmachen, die es erlauben, "damals" und "heute" in einen Kontinuitätszusammenhang zu stellen?

Demokratiepädagogik an weltlichen Schulen?

Der Kulturwissenschaftler und langjährige Präsident der Humanistischen Akademien Horst Groschopp bestritt vor über 50 Gästen den Einstieg in die Tagung. In seiner Keynote "Weltliche Schule und Lebenskunde", gleichbetitelt wie sein im letzten Jahr erschienenes Buch, schätzte er auf Basis seiner Quellen die demokratiepädagogische Relevanz der weltlichen Schulen als sehr gering ein. Die Schulen hätten sich abgesehen von einem staatlichen Moralunterricht nicht von anderen Schulen unterschieden, wobei er hier die Lebensgemeinschaftsschulen terminologisch ausschloss. Ihren politischen und pädagogischen Befürworter_innen sei es primär um einen gemeinsamen Ethikunterricht und Religionsersatz gegangen, weniger um Demokratieförderung. Bei der Entfernung des Religionsunterrichtes sei es auch nicht um einen Pluralismus der Anschauungen gegangen, sondern um verbindlich Säkulares. Die Herkunft des heute in Berlin und Brandenburg erteilten fakultativen, weltanschaulichen Unterrichtsfach "Humanistische Lebenskunde" liege demnach eher im nichtstaatlichen Unterricht der freireligiösen Gemeinden. Zu guter Letzt stellt Groschopp auch noch heraus, dass im Umfeld der weltlichen Schulen so gut wie gar keine Rede von Humanismus war; pointiert erklärend, das damals vorherrschende, eher bürgerlich-konservative Verständnis von Humanismus sei wenig kompatibel gewesen mit einer aus Sicht von KPD und SPD notwendigen Erziehung zum Klassenkampf.

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Experimente und Reformansätze

Damit war eine ausgezeichnete Basis für Widerspruch und Kontroverse gelegt. Die Referent_innen der vier folgenden Workshops kamen zu einer tendenziell anderen Einschätzung. Nele Güntheroth, die über die weltlichen Schulen promoviert hat, aktuell Kuratorin für Stadt und Museum beim Stadtmuseum Berlin, zeigte anhand von Zeitzeugenberichten, Dokumenten und Fotos, dass der Unterricht an den weltlichen Schulen und den sich daraus entwickelnden Lebensgemeinschaftsschulen insgesamt lebensnaher, schüler- und problemorientierter war als an den meisten anderen staatlichen Schulen der damaligen Zeit. Es habe sich nicht nur um Schulen ohne Religionsunterricht gehandelt, sondern um "Experimentierfelder für Reformansätze". Sie entfaltete ein breites Spektrum an organisatorischen, inhaltlichen und methodischen Beispielen: offenere Sitzordnungen, Arbeit in AGs (auch musisch, z.B. Theater), Projektarbeit zum sozialen Lernen, "internationale" Themen wie "Esperanto" oder "Italien", Entwicklung eigener Schulbücher mit sozialen Themen, Schulfahrten, festliche Elternabende mit Beiträgen der Kinder. Es habe dort ein von anderen Schulen abweichendes ganzheitliches, koedukatives Bildungsideal vorgeherrscht; die Persönlichkeitsbildung der Kinder und ihre Unterstützung bei der individuellen Berufsfindung haben im Vordergrund gestanden.

Auch der Historiker Eckhard Müller stellte in seinem Workshop zu den weltlichen Schulen in der preußischen Provinz Brandenburg deren besonderes Augenmerk auf positive Gemeinschaftserlebnisse (etwa durch Schülerparlamente und gemeinsame Fahrten) und Pazifismus (wie in der Ausstellung "Krieg dem Kriege") heraus. Müller legte dar, dass weltliche Schulen bzw. sogenannte Versuchsschulen besonders an Industriestandorten gegründet wurden und konzentrierte sich in seinen Ausführungen besonders auf Frankfurt/Oder, Finsterwalde, Luckenwalde und Wittenberge.

"Du wirst gebraucht": So fasste Richard Rogler, langjähriger Hauptschul- und Museumslehrer, die Haltung der Lehrkräfte gegenüber Schülerinnen und Schülern an weltlichen Schulen zusammen, unter besonderer Hervorhebung des Wirkens der beiden Neuköllner Erzieher Wilhelm Wittbrodt und Alfred Lewinnek. Das war auch der Tenor im Workshop zur "Geschichte und Unterrichtskonzepte der weltlichen Schulen in Halle/Saale", der von Viola Schubert-Lehnhardt, Vizepräsidentin der Humanistischen Akademie Deutschland, und Edmund Fröse vom Humanistischen Regionalverband Halle-Saalkreis e.V. geleitet wurde. Allerdings merkte die auch zu Frauen- und Geschlechterfragen forschende Dozentin Schubert-Lehnhardt kritisch an, dass es recht "kühn" sei, mit unseren heutigen Maßstäben von Demokratie und Demokratieerziehung eine Kontinuitätslinie zum Schulunterricht der 20er Jahre in Deutschland zu ziehen – einer Zeit der nur zaghaften Demokratisierung, die auf erbitterten und breiten antidemokratischen Widerstand traf.

Insgesamt wurde am ersten Tag deutlich, dass die Akteur_innen der weltlichen Schule wichtige pädagogische und politische Pionierarbeit geleistet haben, die von der historischen Schul- und Unterrichtsforschung zu wenig gewürdigt wird. Betrachtet man eher die politisch-konzeptionelle Ebene und nur der weltlichen Schulen, so findet man anscheinend wenig Hinweise auf demokratiepädagogisches Engagement in den Verlautbarungen verantwortlicher Politiker_innen und Wortführer_innen. Schaut man hingegen direkt in das Unterrichtsgeschehen und bezieht die Lebensgemeinschaftsschulen mit ein, dann findet man in den täglichen pädagogischen Mikrokosmen vielfältige Formen sozialen Lernens und des Einübens in das Leben einer Gemeinschaft der Gleichen. Man kann dieses Engagement im historischen Rückblick wertschätzen, ohne die These von der "Demokratiepädagogik damals" zu überziehen und die Gesamtbedeutung in einer Gesellschaft zu überschätzen, die sich auf die demokratische Wahl Hitlers zubewegte.

Demokratie als Lebensform

Auf der Tagesordnung für den nächsten Tag stand folglich die Frage, was genau denn mit Demokratiepädagogik heute eigentlich gemeint ist. Vor dem Hintergrund eines Konzeptes von "Demokratie als Lebensform" lässt sich das Experimentierfeld weltliche Schule mit seinen verschiedenen Formen gleichberechtigten sozialen Lernens durchaus als wichtige Vorbedingung oder Element demokratischen Lernens verstehen. Mit den Vorträgen von Bianca Stern, Lebenskundelehrerin beim Humanistischen Verband, und Angelika Eikel, Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik, bekam die Rede von Demokratie und Demokratiepädagogik – damals und heute – eine theoretische Grundierung. Dabei bezogen sich beide auf den US-amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859-1952): Demokratie ist nicht nur eine Regierungsform, sondern bedarf geteilter Erfahrungen in der Lebenswelt: Ein Gramm Erfahrung wiegt mehr als eine Tonne Theorie. Geteilte Erfahrung aber ist keine harmonische Idylle: Stern geht es bei der Umsetzung demokratischer Werte im Unterricht vor allem auch um das Austragen von Konflikten und eine Stärkung der Konfliktfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Sie arbeitet mit der Betzavta-Methodik des Jerusalemer ADAM-Instituts für Demokratie und Frieden. Entscheidend sei die Haltung und Persönlichkeit der Lehrenden: Es gibt keine Demokratie ohne überzeugte und streitbare Demokrat_innen. Angelika Eikel richtete ihren Fokus auf die Frage, warum menschenfeindliches Gedankengut gerade auch bei Kindern und Jugendlichen stark zunehme (so neuere Studien). Sie problematisierte in diesem Zusammenhang auch die psychosozialen Folgen von längeren Grundrechtseinschränkungen in diesen Altersgruppen und forderte Partizipation als ein Recht und Ziel in Schulen, um das demokratische Zusammenleben in kulturell und religiös heterogenen Gruppen zu üben: Um Diversität anerkennen zu können, müsse sie auch aktiv im Alltag erfahren und gelebt werden.   

Mit Demokratiepädagogik gegen Höcke, Halle und Hanau?

Die abschließende Podiumsdiskussion, moderiert von Karen Taylor von EOTO (Each One Teach One), war der Frage nach den Potentialen und Grenzen von Demokratiepädagogik angesichts von Rechtspopulismus, Rassismus und Antisemitismus gewidmet. Frauke Edda Groner, die im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf als Politische Bildnerin arbeitet, legte den Finger in die Wunde: Wenn es keinen politischen Willen gebe, die Schulen in Deutschland zu reformieren und insbesondere stärker für andere gesellschaftliche Akteur_innen zu öffnen, dann nützen die besten demokratiepädagogischen Ideen nichts. Dies ist ein Beispiel für die allgemeinere und strukturelle Kritik, die auch stets an Deweys Konzepte herangetragen worden ist: Eine anspruchsvolle pädagogische Programmatik braucht für ihre Realisierung entsprechende gesellschaftliche Rahmenbedingungen, deren Schaffung selbst auch Teil der Programmatik sein müsste und nicht ausgeblendet werden darf.

Auch die anderen Gäste auf dem Podium, Moussa Al-Hassan Diaw von der Universität Münster, der Antisemitismusforscher Steffen Klävers vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus und die Bildungsreferentin des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend Maike Axenkopf problematisierten auf unterschiedliche Weise die Frage des Zugangs zu Menschen, die für demokratieferne und menschenfeindliche Ansichten empfänglich sind – oder gar schon durch ideologisch verfestigte Haltungen auffallen. Während Steffen Klävers insbesondere die Potentiale von "klassischer Aufklärung" hervorhob, verwies Moussa Al-Hassan Diaw auf seine Erfahrungen im Bereich Extremismusprävention, die ihn gelehrt haben, dass man allein mit "harten Fakten" nicht jeden Menschen erreicht. Die Auseinandersetzung laufe hier auch über die emotionale Ansprache und ein Interesse an der psychosozialen Verfasstheit von Personen mit menschen- oder demokratiefeindlichen Ansichten. Maike Axenkopf hob als Vorteil von theater- und erlebnispädagogisch ausgerichteter Jugendarbeit hervor, dass darüber ganz unterschiedliche Menschen mit verschiedensten Voraussetzungen erreicht werden, weil für derart motivierte Begegnungen keine speziellen Sprachkenntnisse oder kulturelles Spezialwissen nötig seien.

Diskutiert wurde auch die Frage nach ideologischen Verfestigungen in Berufsgruppen mit besonderer gesellschaftlicher Verantwortung. Dass Polizei- und Sicherheitsbehörden hier ein Problem haben, ist hinlänglich bekannt – neu dürfte hingegen für einige Tagungsbesucher_innen Diaws Beobachtung gewesen sein, dass es auch bei Sozialarbeiter*innen ideologische Einstellungen gebe, die den kritischen Blick auf extremistische Phänomene und Personen verstellen bzw. verklären. Beispielsweise werden legalistische Islamist*innen nicht als solche, sondern als Verbündete in angeblich antirassistischen/antikolonialen/humanistischen Anliegen wahrgenommen oder verklärt, obwohl sie in Wahrheit antisemitische und antidemokratische Weltanschauungen vertreten. 

Einmal mehr mit von der Partie der Dauerbrenner: "Was ist so schlimm daran, jemanden nach seiner Herkunft zu fragen, von dem ich vermute, er oder seine Familie hat irgendeinen Migrationshintergrund?" So richtig zufriedenstellend konnte diese Frage aus dem Publikum vom Podium nicht beantwortet werden. Der herangezogene Vergleich, man frage einen übergewichtigen Menschen ja auch nicht gleich nach seiner Diät oder spreche eine großohrige Person auch nicht gleich auf seine Ohren an, war zwar amüsant, schien aber wenig Überzeugungskraft zu entfalten. Bei diesem Thema gibt es offensichtlich noch einigen Bedarf an kleinteiliger und genauer Auseinandersetzung über die Motive der Fragenden und die Empfindungen von Befragten.

Sehr ermunternd war an diesem Podium insgesamt der Haupteindruck, dass sich die Gäste mit ihren diversen weltanschaulichen, religiösen und kulturellen Hintergründen nicht nur in vielerlei Hinsicht einig waren, wo die Schuhe drücken, sondern vor allem auch Interesse signalisierten, bei diesem Thema in Zukunft noch mehr zusammenzuarbeiten. Anders wird es auch nicht gehen.

Die Beiträge und Ergebnisse der beiden Tage werden im nächsten Jahr in der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg publiziert. Vorbestellungen sind unter info@humanistische-akademie-bb.de möglich.

 

Ralf Schöppner