Die moderne Gesellschaft ist geprägt von weltanschaulich-religiösem Pluralismus und der seit Jahren abnehmenden Bindungskraft großer Mitgliedsorganisationen wie Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften. Die Beispiele der Muslim_innen und der Humanist_innen zeigen, dass Mitgliederzahlen einer spezifischen Organisation oder eines Verbands nicht unbedingt Aufschluss geben können über die gesellschaftliche Relevanz von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften insgesamt, so der Ausgangspunkt der Tagung.
Was sind aber stichhaltige und praktikable Kriterien der Zugehörigkeit? Welche Rolle spielt die Teilnahme an den sozialen, kulturellen und pädagogischen Angeboten der Gemeinschaften? Lassen sich spezifische weltanschauliche und religiöse Praxen als Zughörigkeitskriterien definieren? Gibt es gar "Säulen des Humanismus" – analog zu den fünf Säulen des Islam, auf die der Konferenztitel anspielt? Diesen Fragen wurde im ersten Panel der Tagung nachgegangen.
Dazu stellte Tatjana Schnell, Psychologin und empirische Sinnforscherin an der Universität Innsbruck, ihre Studie "Konfessionsfreie Identitäten" vor (siehe dazu auch: https://fowid.de/meldung/konfessionsfreie-identitaeten). Die Studie wurde 2016 in Deutschland, Österreich und den Niederlanden von einem internationalen Forscherinnenteam begonnen. Hatten bisherige Studien vor allem erfasst, ob und wie stark die Befragten über religiöse Überzeugungen verfügen, erforscht diese Studie die Überzeugungen alternativer, nicht religiöser Lebenskonzepte. In ihren Auskünften zum eigenen Selbstverständnis bezeichneten sich die Studienteilnehmer/innen unterschiedlich, manche als Humanist/innen, andere als Atheist/innen, Agnostiker/innen, Freidenker/innen, Säkulare und/oder Religionslose. Tatjana Schnell arbeitete in ihrem Vortrag nun vor allem heraus, wie sich diejenigen Befragten, die sich als Humanist/innen bezeichnen, von den anderen Studienteilnehmer/innen unterscheiden, nicht so sehr aber welche gemeinsamen Zugehörigkeitskriterien eine säkulare Identität ausmacht.
Der Struktur der "5 Säulen des Islam" folgend, auf die im Tagungstitel angespielt wurde, präsentierte die Wissenschaftlerin Überlegungen, was analog "5 Säulen des Humanismus" sein könnten. Statt eines Glaubensbekenntnisses ständen 1. grundlegende Überzeugungen im Vordergrund, zu denen laut Studie bei Humanist/innen beispielsweise gehört, dass Gott oder höhere Mächte Wunschvorstellungen seien, man selbst für seine Taten verantwortlich und so etwas wie Sinnerfüllung wichtiger sei als Wohlstand und Sicherheit. Statt des Gebets schlug Schnell 2. (atheistische) Spiritualität vor. Die Studie bezieht sich an dieser Stelle vor allem darauf, ob die Befragten Erfahrungen der "Unermesslichkeit und Immanenz" gemacht hätten, was gut die Hälfte der Humanist/innen innerhalb der Gruppe der Befragten bejahte. Als dritte Säule analog zum islamischen Fasten präsentierte Schnell ihre Überlegung, ob an dieser Stelle säkulare Feiertage als verbindendes Element in Frage kommen. Viele der befragten Konfessionsfreien insgesamt bejahten die Aussage, dass es auch säkulare Varianten von religiösen Bräuchen und Lebensfeiern geben sollte. 4. könne statt der sozialen Pflichtabgabe, eine Säule des Humanismus die humanistische Orientierung und Prosozialität sein. Ein Großteil der Humanist/innen nehme laut Studie beispielsweise Einschränkungen ihres eigenen Lebensstandards in Kauf, um das Leid anderer zu mindern. Was 5. eine humanistische Analogie zur Pilgerfahrt nach Mekka sein könnte, blieb weitgehend offen, schien aber im Zusammenhang mit Kriterien der Zugehörigkeit für Humanist/innen vernachlässigbar, sollten ja die fünf Säulen des Islams nur als Aufhänger für ein gemeinsames Nachdenken darüber bieten, wodurch praktische Zugehörigkeit sich äußern kann.
Das anschließende Podium bot nach einem Kommentar von Horst Junginger, Religionswissenschaftler an der Universität Leipzig, insbesondere dem Publikum Möglichkeit für Nachfragen und Diskussionsbeiträge. Insbesondere wurde – erwartbar – die "atheistische Spiritualität" kontrovers diskutiert. Horst Junginger argumentierte, der Begriff sei allzu religiös besetzt und daher ungeeignet. Es wäre allerdings wichtig, dass Humanist/innen ein neues Verständnis des Irrationalen entwickelten, das elementarer Bestandteil des menschlichen Lebens sei.
Das zweite Panel fragte danach, welche Konsequenzen eine nicht-kirchenförmige Art und Weise der Zugehörigkeit für eine moderne Religions- und Weltanschauungspolitik haben kann. Im Dialog mit Vertreter/innen aus Politik und verschiedenen Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften wurde auf mögliche Weiterentwicklungen des deutschen Religions- und Weltanschauungsrechts ebenso geschaut wie auf praktische Fragen des gleichberechtigten Zusammenlebens in einer vielfältigen Gesellschaft.
Zunächst referierte Ralf Schöppner, geschäftsführender Direktor der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg, einige Thesen des leider kurzfristig erkrankten Ulrich Willems, welche die gedankliche Grundlage für die folgende Diskussion darstellten. Laut Willems habe sich die religiöse und weltanschauliche Landschaft der Bundesrepublik massiv pluralisiert und sei nicht mehr allein durch die zwei großen christlichen Konfessionen geprägt. Daraus ergäben sich verschiedene Herausforderungen: Die Kooperation zwischen Staat und Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften sei noch sehr kirchenförmig organisiert. Die Zugangs- und Funktionsbedingungen müssten entsprechend überarbeitet werden, damit sie auch von religiösen und weltanschaulichen Minderheiten angemessen genutzt werden könnten. Eine Neujustierung sei auch bei der Wohlfahrtspflege nötig. Insgesamt attestiere Willems der Politik, Religionspolitik als "Stiefkind" zu behandeln und die grundlegenden religionspolitischen Herausforderungen weitgehend zu ignorieren. Religionspolitik könne auch mit Blick auf den Islam nicht auf Extremismusprävention verkürzt werden. Haupthürde für eine integrative Religions- und Weltanschauungspolitik sehe Willems in der fehlenden Organisationsfähigkeit von beispielsweise Muslimen und Konfessionsfreien, bzw. in der im Vergleich zu den Kirchen so anderen Logik in der Definition von Zugehörigkeit.
An diesem Punkt setzte in der Podiumsdiskussion Nina Mühe an, die als Ethnologin das islamische Gemeindeleben in Berlin untersucht hat. Es gebe beispielsweise viele Muslime, so Mühe, die freitags regelmäßig in die Moschee gingen, durchaus auch mal in verschiedene, die deswegen aber noch lange nicht Mitglied in einem der Moscheevereine werden wollten – nicht, weil sie es ablehnen, sondern weil formale Mitgliedschaft für sie schlicht keine Rolle spiele. Ähnliche Erfahrungen machen humanistische Organisationen. Umfragen zufolge teilen weit mehr Menschen weltlich-humanistische Werte und nehmen weit mehr Menschen an den weltanschaulichen Angeboten beispielsweise des Humanistischen Verbandes teil, als sich Menschen zu einer Mitgliedschaft entschließen.
Mitgliedszahlen als Orientierung für die Bedeutung und gesellschaftliche Relevanz von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu nehmen, greife zu kurz, so auch Thomas Heinrichs, Präsident der Humanistischen Akademie Deutschland. Das Religions- und Weltanschauungsrecht müsse dringend überarbeitet werden, eine gesellschaftliche Debatte dazu sei überfällig. Ob denn die katholische Kirche ihrerseits Veränderungsbedarf sehe, wo sie doch eigentlich mit am meisten vom Status-Quo profitiere, fragte Moderatorin Tina Bär mit Blick aufKatharina Jestaedt, stellvertretende Leiterin des Kommissariats der deutschen Bischöfe- Diese machte deutlich, dass die Situation auch für die Kirche nicht nur zufriedenstellend sei;durch schwindende Mitgliedszahlen auf Seiten der Kirchen könnten viele Privilegien, die der Staat ihnen gewährt, gar nicht mehr angemessen ausgefüllt werden. So finde beispielsweise der Religionsunterricht mancherorts konfessionsübergreifend statt, weil sich ein jeweils eigener Unterricht – der rechtlich möglich wäre – nicht mehr realisieren lasse. Angelica Dinger, Referentin für Kirchen- und Religionsgemeinschaften beim SPD-Parteivorstand teilte den Stiefkind-Vorwurf von Willems nicht in der Schärfe, formulierte aber auch Handlungsbedarf gerade hinsichtlich kleiner Religionsgemeinschaften, aber auch mit Blick auf die wachsende Zahl an Konfessionsfreien in Berlin und bundesweit.
Insgesamt wurde deutlich: Auch die Kirchen teilen offenbar die Einschätzung, dass der Staat der zunehmenden weltanschaulichen Pluralisierung künftig stärker gerecht werden müsse, auch wenn Jestaedt anmerkte, dass aus Sicht der Kirche die möglichen Spielräume der bestehenden Rechtslage ausreichend seien und nur stärker genutzt werden müssten. Diese Auffassung teilten Nina Mühe und Thomas Heinrichs wiederum nicht und sahen grundsätzlicheren Reformbedarf. Wie es anders gehen könnte? Kooperation könnte künftig beispielsweise viel lokaler stattfinden, dann wäre es auch nicht nötig, bundesweit mit der Stimme einer Organisation oder eines Verbandes zu sprechen, sondern Kooperationen zwischen Staat und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften könnten da initiiert und gepflegt werden, wo sie vor Ort sinnvoll seien, mit den Organisationen, die vor Ort Interesse an Kooperation haben, so der Tenor.
Einig war man sich zudem darin, dass Religions- und Weltanschauungspolitik im Sinne Willems stärker als eigenständiges Politikfeld gesehen und entwickelt, sowie ihre gesellschaftlichen Integrationspotentiale stärker beachtet und genutzt werden müssten.
Tina Bär
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