Am 9. und 10. Oktober 2015 nahmen etwa 60 Gäste an der von der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg durchgeführten Tagung "Was gehört zu Deutschland? – Humanismus, Reformation und moderner Pluralismus" im Ullsteinhaus in Berlin-Tempelhof teil. In den neuen Räumen der Humanistischen Fachschule für Sozialpädagogik sorgten die Referenten Mouhanad Khorchide, Micha Brumlik, Enno Rudolph, Hubert Cancik, Thomas Heinrichs, Horst Groschopp, Alexander Bischkopf, Tim Reiß und Ole Frahm sowie ein interessiertes Publikum für intellektuell anregende und lebhaft-kontroverse Debatten.
Was gehört zu Deutschland? Diese Frage meinte natürlich nicht in völkisch-ethnizistischer Weise "Was gehört zum deutschen Wesen oder zum deutschen Volk?" und ebenso wenig "Was gehört exklusiv zu Deutschland und zu anderen Ländern nicht"? Sie meinte stattdessen: "Was gehört zu einem demokratischen Rechtsstaat, dessen verfassungsrechtliche Basis Menschen- und Bürgerrechte sind, und der darüber hinaus weltanschaulich neutral ist bzw. es sein sollte?"
An den beiden Tagen wurde unter dieser übergeordneten Fragestellung thematisch einiges zusammengepackt: Ein humanistischer Blick auf Reformation und Lutherdekade, Potenziale und Grenzen des Religions- und Weltanschauungsrechts, Deutschland und der Islam.
Ein humanistischer Blick auf Reformation und Lutherdekade
2017 steht der 500. Jahrestag des lutherschen Thesenanschlags an. Schon seit 2008 wird diese Feier im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Lutherdekade" der evangelischen Kirche Deutschland begleitet und vorbereitet. Liest man Publikationen der Lutherdekade, kann man sich eines Eindrucks nicht erwehren: Alles Gute kommt von Luther. Etwas weniger salopp: Freiheitsrechte, Demokratie, Toleranz und Pluralismus: All dies und vieles mehr haben wir, so scheint es, nur dem Wirken des Reformators zu verdanken.
Um die Reformation in einen breiteren historischen Kontext einzuordnen, ging der klassische Philologe und Humanismusforscher Hubert Cancik zurück in die griechische Antike und deren Rezeption zu Beginn der europäischen Renaissance. In seinem Vortrag "Der moderne Rechtsstaat und die Vielfalt der Lebensformen – Zur Rezeption antiker Staatslehren in der humanistischen Bewegung" zeigte er, dass die wirkliche Arbeit an den geschichtlichen Quellen sehr viel kleinteiliger und vielschichtiger ist als jede Geschichtspolitik. Herodot, Thukydides, Platon und Aristoteles: Ein frühes politisches Nachdenken über Demokratie, Gleichheit, Autonomie und verschiedene Formen des Lebens; ein transpersonaler Staatsbegriff ohne mythisch-sakrale Elemente, verdeutlichend, dass eben nicht alle politischen Begriffe der Neuzeit ursprünglich religiöse Begriffe waren. Marsilius von Padua und Thomas Morus als frühe Rezipienten antiker Staatslehren in Europa: Bei ersterem die Trennung von geistiger und ziviler Gewalt, die eine Pluralität der Lebensformen ermöglicht; bei Morus die "Religion der Utopienser" als Religionsfreiheit und die Ablehnung des Gedankens homogener Kulturen, der sich aktuell in so manchem europäischen Land einer neuen expliziten Beliebtheit erfreut. Kurzum, Hubert Cancik konstatierte eine gewisse "Modernität" des politischen Denkens der Antike, ohne ihre kriegerischen Elemente und realdemokratischen Defizite auszublenden. Auf die Ausgangsfrage der Tagung "Was gehört zu Deutschland" wäre von hier aus zu antworten: Das humanistische, in der Renaissance wieder aufgenommene, Erbe der Antike. Kritisch diskutiert wurde im Anschluss, inwieweit das antike Denken von z. B. Freiheit oder "Individualität" mit unserem modernen Verständnis dieser Begriffe vergleichbar ist.
Der damit eingeschlagene Denk- und Forschungsweg wurde von Enno Rudolph, Philosoph, Theologe und Kulturwissenschaftler, weiter pointiert. In seinem Vortrag "Reformation statt Renaissance – Luthers Kampf gegen die humanistische Freiheit" ging es nun nicht mehr nur um die These, dass es ohne den Humanismus in Antike und Renaissance gar keine Reformation und keinen Luther gegeben hätte. Rudolph legte vielmehr dar, dass der von Luther ausgehende deutsche Protestantismus ein Gegenhumanismus gewesen sei, der den Humanismus durch eine religiös kanalisierte Aufnahme entschärft und so demokratische und pluralistische Entwicklungen in Deutschland verzögert habe. Er zeigte dies an den aus Luthers Schriften herausgearbeiteten drei Oppositionen "Glaube statt Wissen", "Gnade statt Freiheit", "Schriftmonismus statt literarischer Pluralismus". In den Heidelberger Disputationen, "das Dokument einer Verdammung der Philosophie und der Wissenschaft im Namen eines dezisionistischen religiösen Fundamentalismus", vollziehe Luther eine "Zerstörung des Wissens". Die Schrift "Vom unfreien Willen" (De servo arbitrio) sei der "Zerstörung der Freiheit" gewidmet, sich richtend gegen den roten Faden der Freiheitsideen in der Renaissance – von Petrarca über Pico della Mirandola bis hin zu Erasmus. Und beide Schriften im Ganzen atmeten den Geist der Intoleranz: Denn während im Humanismus die gesamte Literatur der griechischen, jüdischen, kleinasiatischen und lateinischen Antike als normatives Vorbild und Legitimation eines weltanschaulichen Pluralismus gilt, gibt es im Luthertum nur die eine wahre Schrift. Vor diesem Hintergrund wäre die gefeierte Reformation als eine Niederlage des Humanismus zu bewerten. Die Frage, ob Luther und die Reformation zu Deutschland gehören würden, beantwortete Rudolph empirisch mit Ja und bedauerte zugleich, dass dann der Humanismus eher nicht dazugehöre, "leider".
Potenziale und Grenzen des Religions- und Weltanschauungsrechts
Diese etwas düstere Diagnose Rudolphs findet einen gewissen Widerhall im deutschen Religions- und Weltanschauungsrecht. Der Philosoph und Rechtsanwalt, Thomas Heinrichs, verwies in seinem Vortrag "Ein Recht für die Kirchen oder ein Recht für alle? – Wie offen ist das deutsche Religions- und Weltanschauungsrecht?" vor allem auf dessen "Kirchenförmigkeit".
Religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften wird gemäß Grundgesetz unter gewissen Voraussetzungen der privilegierte Status einer nicht-staatlichen Körperschaft des öffentlichen Rechts zugebilligt, nämlich dann, wenn sie durch ihre Verfasstheit und die Zahl ihrer Mitglieder eine Gewähr der Dauer bieten. Diese Bedingungen erfüllen – nicht nur – aber vor allem die beiden christlichen Großkirchen: Eine, wenn auch abnehmende, so doch immer noch hohe Mitgliedschaft, mit klaren Regeln für Ein- und Austritt; Mitgliedsbeiträge; eine gewisse hierarchische Struktur. Wenn nun angesichts eines hiesigen Bevölkerungsanteils von mehr als einem Drittel konfessionsfreier Bürger und Bürgerinnen sowie der vielen hier lebenden Muslime auch humanistische und muslimische Organisationen ihr Recht auf Gleichbehandlung einfordern, dann wird – so Heinrichs – vor allem auch die Frage nach einer Zubilligung des Körperschaftsstatus aktuell. Dieser jedoch, sei für diese Organisationen weitaus schwerer zu erreichen, weil sie z. B. durch Formen von Zugehörigkeit ohne Mitgliedschaft und durch keine hierarchische Struktur geprägt (Humanistische Verbände) oder wie im Falle der Muslime dezentral in Vereinen und Moscheegemeinden organisiert seien, die nur etwa 10 bis 20 % der in Deutschland lebenden Muslime repräsentierten.
Die Tatsache, dass in einigen Bundesländern aufgrund von Gesetzen durch die Ministerien gebildete Beiräte als legitime Vertretung "der Muslime" in Deutschland angesehen werden, hält Heinrichs für verfassungswidrig. Er plädierte für eine dezentralisierte Prüfung und Vergabe von Körperschaftsrechten sowie die Anerkennung anderer Formen von Zugehörigkeit als nur expliziter Mitgliedschaft. In Bezug auf den Religionsunterricht merkte er an, diese in GG § 7 festgelegte Übertragung einer Pflichtaufgabe an die Religionsgemeinschaften – ethisch-moralische Erziehung – könne auch nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften übertragen werden. Auf die Frage der Tagung ließe sich mit Heinrichs also antworten: Zu Deutschland gehören Konfessionsfreie wie Muslime und entsprechend ihre juristische Gleichbehandlung.
Für eine Fortentwicklung und Korrektur des deutschen Staatskirchenrechts, das neuerdings gerne als "Religionsverfassungsrecht" bezeichnet wird, hatte sich in der Vergangenheit wiederholt auch der Publizist und Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik ausgesprochen, dabei ebenfalls beispielhaft auf Muslime und Konfessionsfreie verweisend.
In seinem Vortrag "Öffentliches Wohl und Orientierung – Zur Zukunft der Religions- und Weltanschauungspolitik in Deutschland" fokussierte er diesmal jedoch stärker auf die Legitimität des bestehenden Staatskirchenrechts, das andernorts auch als "hinkende Trennung" von Staat und Kirche bezeichnet worden ist. Die Kooperation des Staates mit den Religionsgemeinschaften habe ihren guten Grund darin, dass sie fundamentalistische Strömungen und Tendenzen innerhalb dieser Gemeinschaften zurückdrängen und jede Reinheit der Lehre im Sinne staatsbürgerlicher Integration beeinträchtigen könne.
In den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte Brumlik aber den Gedanken der Menschenwürde als einer Gemeinsamkeit von Humanisten/-innen und Religiösen. Auf den späteren Einwand aus dem Publikum, es gäbe weder im Alten noch im Neuen Testament irgendeine Formulierung von Menschenwürde, reagierte Brumlik mit einem Zitat aus dem Babylonischen Talmud. Zunächst aber plädierte er am konkreten Beispiel des verweigerten Handschlags eines Imans mit der rheinland-pfälzischen CDU-Vorsitzenden Julia Klöckner für eine sorgfältige Unterscheidung von Verletzung der Menschenwürde einerseits und Verstößen gegen etablierte Umgangsformen andererseits. Wer sich aus religiösen Gründen weigere, einer Frau die Hand zu geben, verstoße – so Brumlik – nicht gegen die Verfassung und beweise auch nicht seine "Integrationsunwilligkeit". Eher andersherum: Wer andere über die Kenntnis der Umgangssprache und Gesetzestreue hinaus zu irgendwelchen Konventionen zwingen will und dies als "Integration" preist, erweise sich als illiberal. Hier hätte sicherlich nachgefragt werden können, ob dieser Kommentar nicht die Bedeutung von kulturellen Konventionen und ethischen Prinzipien für das gesellschaftliche Zusammenleben unterschätzt.
Während also eine weite Auslegung der Religionsfreiheit für Brumlik "zu Deutschland gehört", war er deutlich skeptischer in Bezug auf die Frage, ob denn Humanismus eine Weltanschauung im Sinne des Grundgesetzes sei. Er attestierte einen Mangel an Ritualität z. B. der humanistischen JugendFeier (Brumlik sprach von "Jugendweihe") und sah den Humanismus eher als eine breite kulturelle Tradition denn als eine spezifische Weltanschauung.
Deutschland und der Islam
Inwiefern gehört der Islam zu Deutschland? Dass diese Frage in Politik und Öffentlichkeit heute überhaupt bejaht wird, bedeutet positiv den Abschied von der bundesrepublikanischen Lebenslüge, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Kritisch aber ist zu fragen: Wie sinnvoll ist die pauschale Rede von "dem Islam"? Gehört der Islam in allen seinen Formen und in jeder Hinsicht zu einem demokratischen Rechtsstaat und einer offenen Gesellschaft?
Mouhanad Khorchide, seit 2010 Professor für Islamische Religionspädagogik und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster, vertrat in seinem Vortrag "Humanismus und Islam" die These, dass ein auf einer humanistischen Koranhermeneutik basierender, gründlich reformierter Islam sogar eine notwendige Quelle auf dem Weg zur Verwirklichung eines globalen Humanismus sei.
Grundlage dieser These war zum einen eine spezifische und in muslimischen Kreisen umstrittene – antiautoritäre – Lesart des Korans, in deren Zentrum das Bild eines barmherzigen Gottes steht, der den Menschen in seiner Individualität, Vernunft, Freiheit und Verantwortung bejaht. Zum anderen eine spezifische Lesart des Humanismus, die einer seiner Strömungen eine Sakralisierung des Menschen und damit verbundene absolute Wahrheitsansprüche diagnostiziert.
Khorchide kritisierte Menschen bevormundenden Ausprägungen von Religion und Humanismus mit der Begründung, dass Gott die absolute und unerkennbare Wahrheit sei und Menschen sie immer nur annähernd erkennen könnten. Man musste dieser theologischen Begründungsfigur gar nichts abgewinnen, um doch eine wesentliche Ähnlichkeit zum zeitgenössischen humanistischen Denken konstatieren zu können: Das skeptische und pluralistische Bewusstsein, eine unfertige Weltanschauung unter anderen ebensolchen ertragen zu müssen. Dass in der Humanistischen Akademie ein religiöser Gastredner ausgiebig über Gott sprechen kann, darüber was dieser Gott denke und wolle (ganz so als ob dessen Existenz überhaupt nicht in Frage stünde), ohne sich doch gleich lauten Unmut zuzuziehen, spricht vielleicht selbst schon für die Toleranz eines zeitgenössischen Humanismus, seine Akzeptanz einer doppelten Religionsfreiheit: Freiheit zur Religion und Freiheit von der Religion.
Khorchide bestimmte Humanismus als eine Haltung des Sich-Öffnens des Menschen nach innen und nach außen, hin zu Selbstreflexion und Gesellschaftskritik, zu Vernunft und Empathie, zu Kreativität und Verantwortung. Damit erwies er sich als ein so anregender wie wichtiger Gesprächspartner, nicht nur für humanistische Akademien und Verbände sondern auch für einen notwendigen gesellschaftlichen Dialog der Religionen und Weltanschauungen.
Die Teilnehmer-/innen hatten Gelegenheit, die Diskussionen in Arbeitsgruppen zu vertiefen und sich mit weiteren Aspekten des Tagungsthemas auseinanderzusetzen. Horst Groschopp, Kulturwissenschaftler und langjähriger Direktor der Humanistischen Akademie, leitete die AG "Der Beitrag des Pluralitätsdiskurses zum Untergang der Freidenkerbewegung"; Alexander Bischkopf, Bildungsreferent beim Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg diejenige zu "Verständnis für alles? – Zur Bedeutung des Pluralismus in humanistischer Pädagogik"; Tim Reiß, Philosoph und Germanist, sprach und diskutierte über "Was hält ein Land zusammen? – Homogenität oder Demokratie, Böckenförde oder Habermas?"; Ole Frahm thematisierte anhand vieler Beispiele "Was darf Karikatur?".
Trotz vielerlei Bemühungen hatte sich das geplante politische Abschlusspodium leider nicht realisieren lassen. Von einem ausgeprägten Interesse der politischen Parteien kann nicht berichtet werden. Unter Beibehaltung der Fragestellung "Kooperativer Laizismus nur für Religionen?" diskutierten Mouhanad Khorchide und Thomas Heinrichs mit Publikum und Moderator Sven Speer vom Forum für offene Religionspolitik.
Der Schwerpunkt der Diskussion lag zum einen auf der Frage, wie sich denn die grundgesetzlich gebotene Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften – hier: Islam und Humanismus – mit den christlichen Großkirchen verwirklichen lasse. Am Beispiel des Religionsunterrichtes wurde das Thema aber auch noch mal viel grundsätzlicher thematisiert: Warum überhaupt ein solcher Unterricht in einer staatlichen Schule? Aus dem Publikum kam der Einwand, dass doch gerade die muslimischen Kinder zu Hause schon genug davon hören würden und eher Ethik-Unterricht benötigten. Khorchide argumentierte, dass gerade weil viele Kinder zu Hause oftmals nur von einem reduzierten oder fälschlicherweise autoritär verstandenen Islam hören würden, bedürfe es des islamischen Religionsunterrichtes durch gut ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen. Hier war er sich mit Thomas Heinrichs einig, dass das Berliner Modell eines Sowohl-als-auch von Bekenntnis- und Ethik-Unterricht zukunftsfähig sei. Insgesamt wurde in der Diskussion aber der Bedarf deutlich, jenseits dieser rechtlich-politischen Fragen und angesichts der aktuellen Flucht- und Migrationsbewegungen auch mehr über die Chancen und Herausforderungen des kulturellen Miteinanders zu diskutieren.
Ralf Schöppner
Alle Fotos: Arik Platzek
Alle Videos: Frank Spade
In Kooperation mit der Humanistischen Akademie Deutschland, dem Humanistischen Verband Deutschlands - Berlin-Brandenburg, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Senatsverwaltung für Kultur und Europa.