Auch von Bildung war seit Beginn der Corona-Krise viel die Rede. Dabei ging es zumeist um technische Fragen: "Hinkt" Deutschland "digital" hinterher? Wie gut sind Schulen und Lehrkräfte in der Lage, auf digitale Formate umzustellen? Sind die Internetverbindungen ausreichend? Haben alle Schülerinnen und Schüler ausreichend Zugang zu den notwendigen Geräten? Auf der Webtagung "Menschenbild und humanistische Bildung" der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg am 11. und 12. September 2020 wurde demgegenüber der Blick stärker auf wünschenswerte Inhalte und Ziele von Bildung gelenkt.
Dr. Ralf Schöppner (Geschäftsführer der Humanistischen Akademie) - Begrüßung und Einführung Tag 1
Bildung für nachhaltige Entwicklung
Am ersten Tag standen konzeptionelle und politische Fragen nach den Zusammenhängen von Menschenbildern und Bildung, von Bildung und Gesellschaft und nach den Herausforderungen durch Digitalisierungsprozesse im Vordergrund. Christoph Wulf, Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft und Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin, verwies eingangs auf die Ambivalenz von Menschenbildern. Diese bergen zum einen die Gefahr, durch normative Festlegungen, was den Menschen ausmacht, Ausschlüsse von Menschen zu produzieren, die in dieses Menschenbild nicht reinpassen. Zum anderen sei die positive Funktion von Menschenbildern als normative Leitideen für menschliche Bildung und Entwicklung unbestritten. In seinem Vortrag "Das Anthropozän – ein neues Menschenbild?'' legte Wulf die Messlatte für Bildungsprozesse durchaus hoch, indem er für das Konzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung im globalen Maßstab – global citizenship – plädierte. Dabei komme es aber entscheidend darauf an, nicht etwa nur eine neue schöne "Erzählung" zu kreieren, sondern Fragen der Umsetzung von Anfang an ins Zentrum zu stellen.
Vortrag: Prof. Dr. Christoph Wulf - Das Anthropozän – ein neues Menschenbild?
Bildungstheorie als Gesellschaftstheorie
Markus Rieger-Ladich, Professor für Erziehungswissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen, brachte sein Grundanliegen auf die prägnante Formel "Bildungstheorie als Gesellschaftstheorie". Er sah die Notwendigkeit eines völligen Neustarts in der Bildungstheorie und plädierte für einen neuen Denkstil mit Blickrichtung auf Ambivalenzen statt auf einfache Oppositionen. Subjekte könnten in Bildungsprozessen nicht einfach als autonome Subjekte vorausgesetzt, sondern müssten als durch soziale Bedingungen erzeugte Subjekte verstanden werden. Dadurch würde eine dreifache Doppeldeutigkeit von Bildungsprozessen deutlich werden: Diese seien sowohl ein aktives Geschehen als auch ein passives Widerfahrnis, besonderes Ereignis und Strukturresultat, individuell und gemeinschaftlich. Aktuell würde zumeist nur die eine oder die andere Seite hervorgehoben. Die praxeologische Bildungsforschung und neuere Forschungen zur ästhetischen Bildung würden aber diese Herausforderungen von Gleichzeitigkeit und Ambivalenz bereits annehmen.
Vortrag: Prof. Dr. Markus Rieger-Ladich - Bildungstheorie als Gesellschaftstheorie
Postdigitalität
Prof. Dr. Felicitas Macgilchrist, Medienforscherin an der Georg-August-Universität Göttingen und Leiterin der Abteilung 'Mediale Transformationen' des Georg-Eckert-Instituts – Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung, schloss an beide vorhergehenden Vorträge an. Digitale Menschenbilder würden wirkmächtig mit Sprache erzeugt. Anhand von Bild- und Sprachmaterial aus öffentlichen Diskursen unterschied sie drei dort häufig anzutreffende Bilder vom Menschen in Bezug auf Digitalität: Erstens "reagieren" – schon das Wort "Digitalisierung" akzentuiere einseitig einen über uns kommenden Prozess; zweitens "kreativ kommunizieren" – Bildungsprozesse fokussierten nicht mehr primär auf "Stoff"; und drittens "enkeltauglich gestalten" – digitale Bildung werde mit Themen wie Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit verknüpft. Als Kontrapunkt zum diskursiven Mainstream warb Macgilchrist für eine "postdigitale Pädagogik", was aber nicht die – –weder realistische noch gewollte – Verabschiedung oder Nichtberücksichtigung des Digitalen meinte, sondern dessen Einbettung in soziale Prozesse und breitere Sinn- und Zielkontexte.
Vortrag: Prof. Dr. Felicitas Macgilchrist: Digitalität – Menschenbilder für die digitale Zukunft
Urteilsfähigkeit stärken unter Bedingungen von Unbestimmbarkeit
Am Ende der Diskussion des ersten Tages hatte das Publikum eine Reihe von Antworten auf die Leitfrage – "was sollen Menschen für eine offene Gesellschaft lernen?" – vorliegen, sicherlich nicht sämtlich neu, aber doch jeweils mit besonderen und anregenden Akzentuierungen:
- Sinnfragen stellen (im Unterschied zu Fragen nach dem Funktionieren von etwas)
- mit Unbestimmbarkeit leben und Situationen des Sich-wunderns und Erstaunens kreieren
- weniger lernen mit mehr Zeit
- Urteilsfähigkeit neu kultivieren
- Denken lernen, vor allem auch im Sinne von "Imaginationsbereitschaft", sich anderes und neues vorstellen zu können.
Humanismus heute: Dezentrierung, Hinterfragung des Vokabulars, Komplexität akzeptieren
Mit Blick auf den zweiten Tagungstag und seinem Schwerpunkt Humanistische Bildung formulierten die Referent_innen zum Abschluss einige Aspekte zu deren Modernität:
- Dezentrierung: Ausgangspunkt könnten heute nicht mehr bloß der Mensch oder das Individuum sein, sondern nur die Menschen mit ihren ganzen "Drumherum": äußere Natur, andere Lebewesen, kulturelle und soziale Lebensbedingungen. Selbst "Inklusion" sei hier wenig hilfreich, solange man darunter verstehe, man müsse etwas von außen in ein beizubehaltendes Zentrum holen.
- Notwendig sei die vollständige Hinterfragung des etablierten Vokabulars und der Verzicht auf feste Anker oder Nullpunkte.
- Der Begriff "Humanismus" könne aufgrund seiner historischen Belastung nur noch sehr zurückhaltend verwendet werden. Entscheidend seien ein weiter Begriff von Bildung – sozial, ästhetisch, emotional, sprachlich, kognitiv – sowie der Bezug auf Menschenrechte und die Akzeptanz von Undurchsichtigkeit und Komplexität.
Diskussion: Was sollen Menschen für eine offene Gesellschaft lernen? C. Wulf, M. Rieger-Ladich, F. Macgilchrist
Wertebildung durch die Schulfamilie
Der zweite Tagungstag war der Praxis humanistischer Bildung und Wertevermittlung gewidmet. Julia Schlimok, Studienrätin an einer bayrischen Grundschule und freie Autorin, fokussierte auf "gelebte Werte" anstelle von "gelehrten Werten". In ihrer vieljährigen Arbeit als Beauftragte für Werteerziehung sei es immer darum gegangen, Schul- und Unterrichtsebene zu verbinden und insbesondere die gesamte "Schulfamilie" einzubeziehen. Die Regelerarbeitung müsse ein ko-konstruktiver Prozess von Lehrenden, Eltern und Schüler_innen sein, der aufgrund des Wechsels der beteiligten Akteure auch beständig neu durchzuführen sei. Das beinhalte wesentlich die wiederkehrende Thematisierung zweier Grundsatzfragen: Welchen Sinn hat es, sich an Werten zu orientieren? Wie müssen wir uns konkret verhalten, damit sie auch wirklich zu unserer Schulkultur werden?
Vortrag: Julia Schlimok - Werte leben – von der Lehre zum gemeinsamen Entwicklungsprozess
Postulate: Worte zur Orientierung
Jaap Schilt, Bereichsleiter Aus-, Fort- und Weiterbildung für das Schulfach Humanistische Lebenskunde beim Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg KdöR, erläuterte den besonderen Zuschnitt dieses fakultativen Weltanschauungsfachs und stellte die im Rahmenlernplan zentralen Postulate vor: Naturzugehörigkeit, Verbundenheit, Gleichheit, Freiheit, Vernunft und Weltlichkeit. Er hob hervor, dass die Postulate nicht etwa in der Studierstube ersonnen worden wären, sondern sich im Laufe der Zeit aus der Unterrichtspraxis ergeben hätten und erst nachträglich konzeptuell ausformuliert worden wären. Die Postulate seien dabei nicht als Beschreibungen eines festgestellten menschlichen Seins, sondern als ausgewählte Aspekte eines guten menschlichen Lebens aus humanistischer Sicht zu verstehen. Sie dienten den Lehrenden zur Orientierung, worauf zu achten wichtig ist. Jaap Schilt erinnerte in diesem Zusammenhang an das am Vortag von Felicitas Macgilchrist ins Spiel gebrachte Zitat von Slavoj Zizek: "Words are never ‚only words‘; they matter because they define the contours of what we can do". In diesem Sinne sind Werte und Postulate Worte.
Vortrag: Jaap Schilt - Postulate als Humanistische Bildungsziele
Corona: Mehr Beteiligung von Kindern und Jugendlichen!
Der dritte Vortrag schließlich machte ernst mit seinem Titel: "Den Kindern eine Stimme geben & Gehör verschaffen – Beteiligungsprojekte als Grundstein demokratischer Schulentwicklung''. Tabatha (11 Jahre) stellte Aktivitäten ihrer Lebenskundegruppe zur Verwirklichung von Kinderrechten vor, beispielhaft und eindringlich das Recht auf Privatsphäre. Ihre Mitschülerin Zainab (11 Jahre) berichtete vom enormen Beharrungsvermögen, das notwendig war, um an ihrer Schule endlich ein sicheres Klettergerüst zu bekommen. Jana Rieger, Lehrerin für humanistische Lebenskunde, die sich selbst lieber als "Lernbegleiterin" bezeichnet, rahmte die Vorträge der beiden Kinder mit Nachfragen und mit Ausführungen zur Demokratiepädagogik. Ein besonderes Anliegen war ihr die Forderung, Kinder und Jugendliche müssten angesichts von aktueller Pandemie und Gegenmaßnahmen viel mehr gehört und beteiligt werden als das bisher der Fall gewesen sei.
Vortrag: Jana Rieger mit Tabatha & Zainab - Kindern Stimme & Gehör verschaffen – Beteiligungsprojekte Grundstein demokratischer Schulentwicklung
Das Recht auf eigene Beantwortung von Sinnfragen
In der abschließenden Diskussion um humanistische Bildungsziele heute wurden das "empowerment" von Kindern und Jugendlichen sowie drei zentrale Kompetenzen hervorgehoben: Fähigkeit zur Selbstkritik, vielseitige Verbundenheit lernen, narrative Einwirkungskräfte erleben. Nichtreligiosität als humanistisches Bildungsziel wurde auch in nichtreligiöser Perspektive sehr skeptisch gesehen. Dieses Thema stünde gegenüber den anderen diskutierten Zielen doch eher zurück und das Recht auf eine eigene Beantwortung von Sinnfragen war unter den Diskutanten unstrittig.
Diskussion: Was sind moderne humanistische Bildungsziele? Mit J. Schlimok, J. Schilt und J. Rieger
Urteilsfähigkeit und Herzensbildung
Interessanterweise betonten die Bildungspraktiker_innen am Samstag stärker emotionale und soziale Bildungsziele – Herzensbildung, während die Wissenschaftler_innen am Freitag vorrangig auf kognitive Ziele zu sprechen kamen – Urteilsfähigkeit. Deutlich war aber, dass es sich dabei lediglich um unterschiedliche Schwerpunktsetzungen handelt, denn die jeweils anderen Aspekte waren stets mitpräsent. Festgehalten werden kann also die Notwendigkeit eines Verzichts auf einseitige Verabsolutierungen in die eine oder andere Richtung. Das Miteinander von wissenschaftlichem Vortrag und Impro-Rap auf der Tagung vermochte das zu illustrieren.
Die Tagungsbeiträge und -ergebnisse werden auch als Buch in der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg veröffentlicht.