Fast 65.000 Schüler_innen besuchen in Berlin ein Unterrichtsfach, für das es keine universitäre Ausbildung gibt. Gemeint ist die Humanistische Lebenskunde, die weltliche Alternative zum Religionsunterricht, den die Kirchen, die Jüdische Gemeinde, die Islamische Föderation und andere religiöse Organisationen anbieten. Während diese bei der Ausbildung ihres Lehrpersonals auf staatlich finanzierte Lehrstühle zurückgreifen können – die Kirchen auf die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität, die Jüdische Gemeinde auf das Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaften in Potsdam und die Islamische Föderation absehbar auf das Islam-Institut –, ist der Humanistische Verband auf sich gestellt.
Ein Institut für Humanistik würde wissenschaftliche Humanismus-Forschung mit einer akademisch fundierten Ausbildung von humanistischen Lehrkräften, Erzieher_innen, Sozialarbeiter_innen, Seelsorger_innen u.a. verbinden. Für einen großen Teil der Berliner Bevölkerung wäre eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen aus religionsfreier Perspektive ein sinnvolles Angebot. Deshalb hat der HVD Berlin-Brandenburg KdöR den Senat wiederholt darauf hingewiesen, analog zum Islam-Institut die Einrichtung eines Lehrstuhls für Humanistik an einer der Berliner Universitäten voranzutreiben.
"Wir finden die Einrichtung eines islamischen Instituts an einer staatlichen Universität richtig. Zwei Voraussetzungen müssen allerdings erfüllt werden", erklärt Ralf Schöppner, Direktor der Humanistischen Akademie. "Erstens darf dort nur Theologie und Religionspädagogik gelehrt werden, zu deren Selbstverständnis die Unterordnung der Religion unter den demokratischen Rechtsstaat gehört. Dazu gehört auch die Achtung der Religionsfreiheit und der Freiheit von Religion. Zweitens brauchen wir in einer Stadt wie Berlin gleichberechtigt ein Institut für die wissenschaftliche Ausbildung humanistischer Theoretiker_innen und Praktiker_innen. Sonst entsteht hier der Verdacht eines monotheistischen Bündnisses, das andere Weltanschauungen diskriminiert."
Problematisch ist, dass sich die Debatte über Werte und Normen immer noch an einer religiösen Grundorientierung ausrichtet, kritisiert Katrin Raczynski, Vorstand im HVD Berlin-Brandenburg KdöR:
"Es ist doch nicht so, als hätten 60 Prozent der Menschen in Berlin und sogar 80 Prozent der Brandenburger_innen keinen Wertekompass, der ihnen Orientierung im Alltag gibt. Im Gegenteil, Religionsfreie haben einen hohen ethischen Anspruch an sich und die Welt. Das stellen wir im gesellschaftspolitischen Dialog, im Gespräch mit den Lebenskunde-Schüler_innen oder im Austausch mit den Menschen, die unsere Kitas, Jugendeinrichtungen oder sozialen Anlaufstellen aufsuchen, immer wieder fest. Sie erklären sich die Zusammenhänge der Welt anhand von philosophischen, anthropologischen und historischen Ereignissen. Was sie von gläubigen Menschen unterscheidet, ist ihr Verzicht auf eine göttliche Instanz und damit der klarere Bezug des eigenen Handelns im Hier und Jetzt."
Ein weiteres Problem ist mit dem Konzept der weltanschaulich-theologischen Lehrstühle verbunden. Deren Aufbau liegt die singuläre zentralistische Struktur der Kirchen zugrunde. Diese Kirchenförmigkeit fehlt sowohl den Muslimen als auch dem Humanistischen Verband. Der behelfsmäßig ins Leben gerufene Beirat zum Islam-Institut repräsentiert ebenso wenig den Großteil der in Deutschland lebenden Muslime wie der Humanistische Verband den Großteil der Religionsfreien. Zum Nachteil gereicht dies jedoch nur dem Humanistischen Verband.
"Uns wird immer gesagt, ein humanistischer Lehrstuhl, der sich an den Angeboten des HVD orientiert, wäre nicht repräsentativ für alle Religionsfreien in der Stadt. Das stimmt. Aber grundsätzlich braucht es doch eine unabhängige Instanz, die die Vielfalt des praktischen und theoretischen Humanismus in unserer Gesellschaft sowie die Säkularisierung aus wissenschaftlicher Perspektive untersucht. Dass die dortigen Erkenntnisse auch für unsere Arbeit wichtig wären, versteht sich von selbst. Wir sind dankbar für jede wissenschaftliche Begleitung unserer Arbeit. Die Eltern der 65.000 Lebenskunde-Schüler_innen erwarten diese akademische Begleitung zu Recht", erklärt David Driese, Leiter der Abteilung Bildung im HVD Berlin-Brandenburg KdöR.
Ein Humanistik-Lehrstuhl hätte schon allein mit Blick auf Lebenskunde einen Praxisbezug wie kaum ein anderer. Mit Einführung des neuen Lehrerbildungsgesetzes werden die Weltanschauungen mit den Religionen gleichgestellt.
"Die Berliner Lehramtsstudierenden dürften künftig also das Fach Humanistische Lebenskunde studieren, gäbe es nur ein entsprechendes Studienangebot – als Äquivalent zum theologischen oder religionswissenschaftlichen Studium", so Driese. "Vor diesem Hintergrund ist es nicht zu verstehen, dass der Senat nicht längst die Einrichtung eines solchen Lehrstuhls angestoßen hat."