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Gemeinsam sprechen - über Klasse!

Working Class Daughters ist der Titel einer Reihe von künstlerisch-explorativen Arbeiten Arbeiten zu den Verknüpfungen von Klasse, Geschlecht und Migration. Inspiriert von Texten wie Tanja Abous Essay „Prololesben und Arbeiter*innentöchter“ (2015) fingen die beiden Initiator*innen des Projekts, Karolina und Kristina Dreit, 2018 an, Freund*innen und Bekannte nach ihren Erfahrungen mit Klasse zu fragen und die Gespräche aufzuzeichnen.

Das Thema lag da schon ein wenig in der Luft, nicht zuletzt dank des internationalen Erfolgs von Autor*innen wie Didier Eribon, Annie Ernaux und Édouard Louis. Doch den beiden Schwestern ging es von Anfang an nicht um individuelle Geschichten, sondern um ein gemeinsames Sprechen über Klassismus, also Erfahrungen von Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft oder Position einer Person. Entstanden sind zahlreiche Interviews, die sie zu vielstimmigen Audio-Collagen zu Themen wie „Sprechen über Klasse“, „Klassismus intersektional“ und „Working Class Daughters als Parfüm“ arrangierten und am 6. Juni im Haus des Humanismus vorführten. 

Beim gemeinsamen Hören der drei ausgewählten Hörstücke fiel auf, dass die Interviewten unterschiedliche Zugänge zum Klassenbegriff hatten: Das Spektrum der Antworten reichte von einem Erfahrungswissen (erste Konfrontation mit Klassismus) über eine theoretische Auseinandersetzung (Marx) und emotionale Zuschreibungen (Verbundenheit) bis hin zur Darstellung verschiedener Dimensionen von Klasse (soziales oder kulturelles Kapital) und Formen der Aneignung im Sinne einer empowernden Selbstbeschreibung, die im Kontrast zu verbreiteten Opfernarrativen steht. Zu welcher Klasse man gehört - auch das wurde in der gemeinsamen Listening Session deutlich - ist auch ein Aushandlungsprozess, je nachdem, in welchen sozialen Milieus und Kontexten man sich bewegt. Hier spielen auch Ost-West-Unterschiede nach wie vor eine Rolle. Vor allem aber ist Klassismus eine stark über sprachliche Codes, Habitus und soziokulturelle Zugänge regulierte Angelegenheit, die sich ebenso vielschichtig wie subtil vollzieht und kaum nachweisbar ist. Während Rassismus und Sexismus als Diskriminierungsformen offiziell anerkannt sind, stellt Klassismus im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz einen blinden Fleck dar.

Eine Gesprächspartnerin von Karolina und Kristina Dreit berichtete in einem vorgestellten Hörstück, dass sie Abwertungserfahrungen in der Schule zunächst auf ihr Geschlecht bzw. ihr ‚untypisches‘ Verhalten als Mädchen zurückgeführt habe. Erst im Rückblick kam ihr der Verdacht, dass die ihr von Lehrer*innen entgegengebrachte Ablehnung (auch) mit ihrer sozialen Herkunft zu tun hatte. Dass sich viele der berichteten Erfahrungen auf die Schulzeit beziehen, ist kein Zufall: Kinder aus prekären sozialen Verhältnissen haben nachweislich schlechtere Bildungschancen als privilegierte Kinder, ja das deutsche Bildungssystem verstärkt bestehende Klassenunterschiede sogar noch (vgl. El-Mafaalani 2020). Viele der von Karolina und Kristina Dreit interviewten Personen wurden insbesondere in der Schule zum ersten Mal mit Klassismus konfrontiert. Dass sie dennoch einen Weg für sich gefunden haben, hat mit Glück und Zufall zu tun, selten mit Leistung. Vor allem die Bedeutung von Unterstützer*innen - engagierten Lehrer*innen oder Müttern von Freund*innen - wurde immer wieder betont: Wer von Klassismus betroffen ist, braucht Menschen, die an sie glauben und ihr Selbstbewusstsein stärken.   

Formal fiel auf, wie sehr sich die beiden Interviewer*innen in den Gesprächen zurücknahmen: Sie verzichteten auf Zwischen- oder Nachfragen sowie Kommentare. Die Ausgangsfragen (z.B. nach den ersten Erfahrungen mit Klassismus) lassen sich nur indirekt aus den Antworten erschließen. Auch die Interviewten selbst weckten Neugier: Einerseits machen Karolina und Kristina Dreit Stimmen hörbar, die im öffentlichen Diskurs unterrepräsentiert sind. Andererseits bleibt die Anonymität der Befragten gewahrt: Man erfährt nicht, wie sie heißen, wo sie wohnen, wie alt sie sind, was sie tun, wie sie leben - es sei denn, sie erzählen von sich aus. Durch die Montage entsteht zudem ein Dialog der Vielen, wodurch es den beiden Künstlerinnen gelingt, einem kollektiven Sprechen über Klasse und Klassismus Raum zu geben. Bei aller Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit des Themas überzeugt hierbei ihr Sinn für Vielschichtigkeit und Unterhaltung: Die erzählten Geschichten bleiben im Gedächtnis, gerade weil sie so klug arrangiert sind, bewusste Pausen setzen, Leerstellen lassen und Sinn für Humor und (Selbst-)Ironie zeigen. Das kam auch bei den Zuhörer*innen gut an, die sichtlich bewegt und dankbar für den gemeinsamen Abend waren.  

Astrid Hackel

Die Veranstaltung fand im Rahmen des Dialogs der Weltanschauungen 2024 statt, in Kooperation mit dem Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg, den Evolutionären Humanisten Berlin-Brandenburg, dem Säkularen Humanismus an Berliner Hochschulen, dem Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten und der Säkularen Flüchtlingshilfe Berlin. Gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Humanistische Akademie Berlin-Brandenburg ist Unterträger der Humanistischen Akademie Deutschland, die ein anerkannter Träger der Bundeszentrale für politische Bildung ist.

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Dr. Astrid Hackel
Referentin Bildung und Forschung