
Den Tod ins eigene Leben lassen
Früher hielt Ingrid Englert den Tod auf Abstand. Heute leitet sie den ambulanten Hospizdienst VISITE. Darin hat sie nicht nur ihre Aufgabe gefunden – sondern auch einen neuen Blick aufs Leben.
Ingrid Englert möchte am liebsten schreiend wegrennen. Es ist ein drückend heißer Tag im Sommer 2022, gemeinsam mit einer Kollegin besucht Ingrid eine Pflegeeinrichtung. Vor ihr im Bett liegt eine schwer kranke Frau, die bald sterben wird. Ihre Gliedmaßen sind entstellt, ihr Geruch übel, ihre Ausstrahlung abweisend und verschlossen. Alles an ihr schreckt ab. Als ehrenamtliche Hospizbegleiterin hätte Ingrid einfach gehen können. Niemand hätte es ihr übelgenommen. Doch sie schaut der Frau in die Augen – und bleibt. Es sollte eine ihrer bewegendsten Begleitungen werden.
Früher hätte sie das nicht gekonnt. Mitte der 1990er-Jahre war Ingrid ausgebildete Krankenschwester. Ihr Wunsch: Menschen helfen – und heilen. Neben dem Medizinstudium arbeitete sie in Berlin auf einer Pflegestation für Menschen mit HIV und AIDS. Der Tod war dort allgegenwärtig. „Doch ich wollte und musste ihn nicht so nah an mich heranlassen“, sagt Ingrid heute. „Ich hatte viel Zeit für meine Patient*innen. Sie starben meist ruhig, mit viel Morphium. Und wenn eine*r von ihnen gestorben war, bekam ich drei Tage frei.“
Ganz anders einige Jahre später auf einer Intensivstation. Der Tod war dort nicht mehr eingebettet in Zeit und Geborgenheit wie auf der Pflegestation – sondern kam oft unerwartet, manchmal innerhalb weniger Stunden. Einige Patient*innen litten dabei qualvoll. Für Ingrids Kolleg*innen war das teils schwer auszuhalten – sie wichen aus. Ingrid nicht. „Mach du das mal“, hieß es dann oft. Von der Krankenschwester wurde sie immer mehr zur „Handauflege-Schwester“, die bei den Sterbenden blieb, wenn andere sich abwandten. „Da habe ich mir erlaubt, dem Tod in die Augen zu schauen, das auszuhalten. Dabei gab es viele berührende Momente mit Sterbenden, die mir die Angst vor dem eigenen Sterben genommen haben“, erinnert sie sich.
Diese Zeit veränderte etwas in ihr. Über die Jahre begleitete Ingrid viele Menschen in ihren letzten Stunden – und spürte dabei immer deutlicher, was ihr wirklich liegt: nicht retten, nicht „reparieren“ – sondern zuhören, einfach da sein. Der Wunsch, heilen zu wollen, trat in den Hintergrund. „Oft war das gar nicht mehr möglich. Und das seelische Leid wog oft schwerer als jedes körperliche Symptom“, sagt sie heute. Ihr Medizinstudium fühlte sich zunehmend fremd an. Sie brach es ab und wechselte später in die Erwachsenenbildung. Eine Phase des Suchens begann: Wo ist mein Platz? Wo kann ich mit dem, was mich ausmacht, wirklich wirken?
Die Corona-Pandemie wurde zur persönlichen Zäsur – und brachte Klarheit. Ingrid engagierte sich ehrenamtlich in der Sterbebegleitung, bildete sich zur Seelsorgerin sowie schließlich zur Koordinatorin in der Hospiz- und Palliativarbeit fort. Im März 2023 übernahm sie die Leitung von VISITE und baut den ambulanten Hospizdienst seither neu auf. „Alles, was ich erlebt und gelernt habe, hat mich Schritt für Schritt dorthin geführt – zu dem, was ich heute tue, und zu mir selbst.“
Diese innere Klarheit heißt für Ingrid: sich auf das einlassen, was ist – dem Tod und vor allem den Menschen in die Augen zu schauen. Genau das ließ sie auch bei jener Frau im Sommer 2022 bleiben. „Als ich ihr in die Augen sah, erkannte ich ein verlorenes Wesen – voller Angst, mit dem Bedürfnis nach Nähe“, sagt sie. Ingrid begleitete sie über mehrere Wochen, war einfach nur da. Die Frau wurde ruhiger, ihre Angst ließ nach. Schließlich konnte sie loslassen – und verstarb friedlich. Für Ingrid war das eine der prägendsten Erfahrungen: „Wer den Tod ins eigene Leben lässt, kann erkennen, was wirklich zählt. Für mich heißt das: für andere da zu ein. Seelsorge ist Teil meiner Selbstsorge. Sie sind untrennbar miteinander verbunden.“
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