Veranstaltungsberichte

Die Humanistische Akademie Deutschland organisiert Veranstaltungen zu verschiedenen humanistischen Themen. Hier können Sie sich über vergangene Tagungen informieren.

Eine Fachtagung der Humanistischen Akademie

Humanismusforschung ist nicht nur der Blick in die Vergangenheit einer geschichtlichen Tradition. Angesichts der politischen und sozialen Krisen der Gegenwart bedarf es einer Verknüpfung historischer Forschung mit aktuellen Problemlagen – einer Humanistik. Welche Beiträge leistet heute ein angeeignetes Erbe des Humanismus zur Lebensorientierung der Einzelnen und zum Zusammenleben in pluralistischen Gesellschaften? Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden berichteten am 21. und 22. April 2017 in der Humanistischen Akademie vom Stand und den Perspektiven einer modernen Humanistik und diskutierten mit 30 interessierten Gästen.

Humanistik statt „Wissenschaftlicher Atheismus“

Der Religionswissenschaftler Horst Junginger, Privatdozent an der Universität Tübingen, bereitete in seinem Vortrag Vom wissenschaftlichen Atheismus zur wissenschaftlichen Humanistik? Weltanschauung und Wissenschaft im akademischen Kontext darauf vor, dass politische Bemühungen um die Einrichtung einer wissenschaftlichen Humanistik damit rechnen müssen, von politischen Gegnern in die Ecke des „Wissenschaftlichen Atheismus“ der DDR gestellt zu werden. Dieser sei zwar noch unzureichend erforscht, doch bestünden keine Zweifel an seiner unzureichenden Wissenschaftlichkeit und ideologischen Kontamination. Daher sei er ungeeignet als Traditionsbezug für eine moderne Humanistik.

Humanistik – so der Redner – ist aber durchaus eine eingreifende und angewandte Wissenschaft, denn Humanismus hat konstitutiv politische und praktische Relevanz. Humanistik bildet humanistische Praktiker und Praktikerinnen aus und nimmt Bezug auf gesellschaftspolitische Debatten und Problemlagen. Es komme darauf an, zu klären, warum und wie sie eingreife, bei steter Gewährleistung der Freiheit wissenschaftlicher Forschung. Angesichts des Pluralismus von Religionen und Weltanschauungen in der deutschen Bevölkerung komme der Einrichtung eines Lehrstuhls für Humanistik eine wichtige politische Bedeutung zu. Die Gleichbehandlung der „juristischen Zwillinge“ Religion und Weltanschauung sei juristisch genauso geboten wie die staatliche „Äquidistanz“ zu beiden. Es wäre „töricht", wenn humanistische Organisationen sich nicht mit der Forderung nach Gleichbehandlung in die Berliner Debatte um eine „Fakultät der Theologien“ einbringen würden, nur weil ihnen die "innere Spannung“ von „Gleichbehandlung" einerseits und „Trennung von Staat und Kirche“ andererseits nicht behage.

Einigen Widerspruch erntete Junginger für seine pointierte Kritik an humanistischen Versuchen, Religion und ihre Funktionen zu imitieren, wie es zum Beispiel die Sunday Essemblys machten. Auch die Debatte um eine mögliche „atheistische Spiritualität“ verlief kontrovers. Der Redner plädierte für eine konsequente Aufgabe der Religionsorientierung des Humanismus und einen Fokus auf praktische Lebensgestaltung und soziale Vergemeinschaftung. Konsens bestand in der Diskussion darüber, dass Humanismus kein Ersatz für Transzendenzbezüge darstelle, die meisten Diskussionsteilnehmer beharrten darüber hinaus aber auch auf dessen Potential, existenziellen Sinn stiften und Trost spenden zu können.

Pluralität, Interkulturalität und Globalität

Der zweite Redner des Abends, Frieder O. Wolf, Honorarprofessor für Philosophie an der Freien Universität Berlin und Präsident der Humanistischen Akademie, schloss sich in seinem Beitrag Eine Humanistik für Berlin? Konzept, Forschungsbereiche, Studiengänge der politischen Forderung der Einrichtung eines Lehrstuhls für Humanistik an. Der konzeptionellen Problematik, Wissenschaft und Weltanschauung miteinander vereinbaren zu wollen, begegnete er mit der Unterscheidung von a) Humanismusforschung (interdisziplinäre universitäre Forschung), b) Humanistik (wissenschaftliche, auf die Praxis des weltanschaulichen Humanismus und die Humanismusforschung bezogene Ausbildung und Forschung), c) Humanistische Studien (weltanschaulich gebundene interne Aus- und Weiterbildung).

Wolf sprach sich zum einen für eine deutliche Erweiterung der Humanismusforschung aus: Der europäische Humanismus des 17./ 18./ 19.  und 20. Jahrhunderts sei genauso ein vernachlässigtes Forschungsthema wie der außereuropäische Humanismus und der Alltags- bzw. Popularhumanismus. Zum zweiten aber gehe es in einer zukünftigen Humanistik nicht nur um eine historische Verbreiterung sondern vor allem auch um die Verbindung des historischen Erbes mit zeitgenössischen Krisenphänomenen. In Ausbildung und Forschung seien insbesondere die dort jetzt schon integrierten Themen Pluralität, Interkulturalität und Globalität weiter zu intensivieren.

Gesundheit und Humanismus

Eine moderne Humanistik muss hellhörig sein für aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse und ihre Auswirkungen. Die massiven öffentlichen Gesundheitsdiskurse in Deutschland, changierend zwischen mehr oder minder subtilen Eingriffen in individuelle Freiheiten einerseits und der Aussicht auf gesteigerte Lebensmöglichkeiten andererseits, provozieren geradezu die Frage nach einer humanistischen Gesundheitsethik und -politik.

Eberhard Göpel, emeritierter Professor für Gesundheitsförderung an der Hochschule Magdeburg Stendal und Lehrbeauftragter an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, plädierte in seinem engagierten Vortrag Humanismus und Gesundheit für ein stärker ganzheitliches Verständnis vom Menschen, ein weniger technisch-instrumentelles Verständnis von Körperlichkeit und Gesundheit als es auch im tradierten europäischen Humanismus üblich sei.

Dabei warnte er insbesondere vor einer zu starken Betonung von Wissenschaft: Diese sei für das menschliche Leben nicht so zentral wie oftmals angenommen. Mit Descartes habe zudem ein rationalistischer Irrweg angefangen, der dazu tendiere, aus Wissenschaft eine Institution der organisierten Besserwisserei zu machen, wodurch der Bezug zum wirklichen sozialen Leben der Menschen verloren ginge. In Abgrenzung von transhumanistischen Vorstellungen vom „ewigen Leben“, die sich bestens zu vertragen scheinen mit medialen und ökonomischen Verlockungsangeboten, bezeichnete Göpel die Sterblichkeit als ein doch beruhigendes Phänomen. Interessant sicherlich die Frage, wie sich das wiederum mit dem von ihm stark betonten vitalen Lebensimpuls verträgt.

Der Referent sparte nicht mit Kritik an der Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Gesundheitswirtschaft, die viele Erkrankungen sowie den nur symptomatischen Umgang mit diesen erst hervorbrächten. „Wir sitzen den ganzen vor dem Bildschirm und müssen dann in unserer Freizeit auch noch ins Fitnessstudio.“ Er äußerte die Ansicht, dass das technische Verhältnis zum eigenen Körper bei Männern in der Regel deutlich ausgeprägter sei als bei Frauen. Insgesamt ließ es sich als Zuhörer wie auch als Zuhörerin während des Vortrages kaum vermeiden, über den Zustand der eigenen Lebendigkeit nachzudenken.

In einer humanistischen Gesundheitsethik und -politik wären ergänzend zur Stoßrichtung des Vortrags sicherlich auch die unbestreitbaren Positiva medizinisch-technischen Fortschritts zu integrieren. In der abschließenden Podiumsdiskussion wurde deutlich, dass Göpel sich auch nicht prinzipiell gegen Wissenschaft stellt, sondern für eine andere Wissenschaft eintritt, mit mehr Nähe zum Individuum und weniger Reduktion der wissenschaftlichen Arbeit auf eine Subjekt-Objekt-Perspektive.

Forschung und Lehre der Humanistik in den Niederlanden

Den Ausblick in die europäische Nachbarschaft begann Caroline Suransky von der Universität für Humanistik in Utrecht, die dort am Lehrstuhl für „Globalisierung und Dialogstudien“ forscht und ausbildet. Seit 1989 erhält die Utrechter Universität analog zur katholischen und evangelischen Theologie staatliche Unterstützung und steht damit – gemeinsam mit Flandern/Belgien – einzigartig in Europa dar. Forschung und Lehre sind eingebettet in ein breites soziales Netzwerk niederländischer humanistischer Organisationen, gleichwohl verstehen sich die Forscher und Ausbilder in ihrer Arbeit als unabhängig von diesem Feld.

Die Humanistik in den Niederlanden ziele – so die Rednerin – im Wesentlichen ab auf zum einen Sinngebung (existenzielle Fragen) und zum anderen Humanisierung der Gesellschaft. Sie betonte den Unterschied zu den „humanities“: Humanistik sei inspiriert von humanistischen Werten: Menschliche Würde, Gerechtigkeit und Freiheit. In multi- und interdisziplinärer Absicht verbinde sie Kenntnisse und Traditionen der Philosophie, Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaften, Religions- und Kulturwissenschaften, Wissenschaftstheorie und Methodologie.

Die aktuellen Utrechter Forschungsbereiche und -themen illustrieren die vielfältige gesellschaftspolitische Relevanz von Humanistik:
1) Humanismus und Philosophie: Gut altern – Altenpflege – Resilienz
2) Bürgerschaft und Humanisierung des öffentlichen Bereichs: Restrukturierung des Wohlfahrtsstaates
3) Erziehung/Bildung: Identitätsentwicklung und kritisch-demokratische Bürgerschaft
4) Care-Ethik – Palliative Pflege: Kritische Einblicke in gute Pflege
5) Globalisierung und Dialogstudien: Humanistische Beratung, Säkularisierung, Gerechtigkeit, Erbschaften des Kolonialismus
6) Forschungsmethodik und Wissenschaftstheorie: Auftragsforschung, z.B. für Pflegeorganisationen
Die Studierenden können in Utrecht einen Bachelor- und einen Master-Studiengang sowie ein Promotionsprogramm absolvieren.

In der Debatte auf dem Podium wurde eine charakteristische Differenz deutlich: Während für den organisierten Humanismus in den Niederlanden eher ein Verständnis von Humanismus als partikularer Weltanschauung leitend zu sein scheint, liegt der Akzent der Humanistik eher auf einem allgemeinen Humanismus im Sinne einer gemeinsamen menschlichen Identität. Womöglich wird eine solche Differenz auch für die Entwicklung der Humanistik in Deutschland von Bedeutung sein, wenngleich auf der Hand liegt, dass beide Akzentuierungen Teil eines modernen Verständnisses von Humanismus sein müssen: weltanschaulich und universell. Tröstend war für all diejenigen, die angesichts der vielen ungeklärten und strittigen Fragen zu Wissenschaft und Weltanschauung leichte Resignation befiel, die Bemerkung von Suransky, dass diese auch mit der Etablierung einer Universität nicht ein für alle Mal geklärt sondern eben Bestandteil von Humanistik seien.

Humanistische Forschung und Lehre in Flandern

Gily Coene von der Vrije Universiteit Brussel (einer niederländischsprachigen Abspaltung der Université Libre de Bruxelles) erinnerte zunächst an den akademischen Ausgangspunkt der heutigen Humanistik in Belgien: die Einrichtung des Studiengangs „Moralweetenshappen“ (Moralwissenschaften) im Sinne einer allgemeinen „Wissenschaft von der Ethik“ in den 1960er Jahren. Aus Sicht ihrer Gründer geht es in diesem Fach nicht nur um die berufsbezogene Vermittlung wissenschaftlich fundierter Kenntnisse sondern auch um ein breites gesellschaftliches Projekt: eine emanzipatorische Verbesserung menschlicher Lebensverhältnisse. Der 2006 an der Vrije Universiteit Brussel (einer niederländischsprachigen Abspaltung der Université Libre de Bruxelles) eingerichtete, staatlich finanzierte und von der Rednerin bekleidete Lehrstuhl für Humanistik führte diesen Ansatz bis 2014 fort.

Aktuell ist die humanistische Grundlagen- wie auch die angewandte Forschung in Flandern lokalisiert am Centre for Ethics and Humanism (Zentrum für Ethik und Humanismus) und am Expertisecentrum Gender, Diversiteit & Intersectionaliteit (Zentrum für Fachkompetenz in Gender, Diversität und Intersektionalität). An der Vrije Universiteit Brussel beziehungsweise der Universität Gent gibt es Bachelor- und Master-Studiengänge für humanistische Praktiker und Praktikerinnen (Lehrkräfte, humanistische Berater und Beraterinnen).

Coene umriss abschließend Elemente eines „Humanismus nach dem Posthumanismus“. Im Zentrum stehe die Notwendigkeit, eine „Politik der Gleichheit“ (Anne Phillips) konzeptionell und praktisch mit einer Wertschätzung von Differenzen (Gender, Sexualität, Religion, Ethnizität, Kultur) zu verbinden, eingedenk tradierter Formen von Humanismus, die oftmals dem Besonderen nicht gerecht zu werden vermochten und exkludierende Tendenzen hatten. „Menschsein“ sei weder „Essenz noch Abstraktion“, nicht trennbar von dem jeweiligen persönlichen Identitätsmix: Mensch sein gerade als Frau, Mann, Afrikaner, Deutscher, Homosexueller und so weiter.

Fazit: Humanitäre Praxis, Wissenschaft, Weltanschauung

Vorträge wie Diskussionen haben – teils implizit, teils explizit – die besondere gesellschaftspolitische Relevanz von Humanistik verdeutlicht: Sie verbindet wissenschaftliche Forschung und Berufsausbildung mit der Bildung von Menschen zu kritischen, freien, verantwortungsvollen, toleranten Weltbürgern und -bürgerinnen. Humanistik engagiert sich – nicht nur in Zeiten religiöser Fundamentalismen und autoritärer Tendenzen – für Menschenrechte, Demokratie und eine Humanisierung menschlicher Lebensverhältnisse.

Eine moderne Humanistik in Deutschland ist in Forschung und Ausbildung bezogen auf die Theorie und Praxis des Humanismus als Weltanschauung. Dabei verfährt sie wissenschaftlich und vermeidet ideologische „Wahrheitsfilter“, indem sie
(1) anknüpft an die gegebene humanistische Praxis (Tätigkeits- und Berufsfelder humanistischer Organisationen, Alltags- oder Popularhumanismus); <

(2) die dieser Praxis zugehörigen Tätigkeiten und weltanschaulichen Vorstellungen thematisiert beziehungsweise explizit macht und wissenschaftlich geleitet reflektiert (rationale Deliberation, empirische Untersuchungen);
dabei (3) zurückgreift auf die wissenschaftliche Humanismusforschung und selbst Forschungsthemen bearbeitet.

Dabei bleibt sie weltanschaulich bezogen, jedoch nicht bezogen auf eine dogmatische Weltanschauung mit feststehenden und unveränderlichen Kenntnissen, sondern bezogen auf ein zentrales Ziel: Durch die Weiterentwicklung und Verbreiterung humanitärer Praxis die Humanisierung der Gesellschaft voran zu treiben bzw. zumindest die erreichten Standards zu verteidigen und zu erhalten.

Es ist erfreulich, dass im Kontext der Berliner Diskussion um die Einrichtung einer gemeinsamen „Fakultät der Theologien“ an der Humboldt-Universität zuletzt von politischer Seite auch die Beteiligung humanistischer Weltanschauungsgemeinschaften angeregt worden ist. Die Tagung der Humanistischen Akademie hat gezeigt, dass die notwendigen Grundlagen dafür vorhanden sind, und sie hat wichtige Aufschlüsse über konzeptionelle Fragen gebracht.

Autor: Ralf Schöppner

In Kooperation mit der Humanistischen Akademie Deutschland, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

Tagung der Bundesakademie in Stuttgart

Was gehört zu Deutschland? Humanismus, Reformation, Islam? Die Humanistische Akademie Deutschland hat am 17. und 18. Juni 2016 zum ersten Mal seit 2009 wieder eine Tagung in eigener Regie durchgeführt.

Dank der Kooperation mit den Humanisten Baden-Württemberg konnten die 60 Gäste den Vorträgen von Ulrike von Chossy, Mouhanad Khorchide, Enno Rudolph, Horst Groschopp, Thomas Heinrichs, Axel Kuhn und Heiner Jestrabek lauschen und engagiert mit den Vortragenden diskutieren. 

Die Bundesakademie will diesen Weg fortsetzen und auch 2017 wieder eine Tagung in einem anderen Bundesland durchführen.

Am 17. Juni 2017 waren mehr als 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu Gast bei einer Veranstaltung der Humanistischen Akademie Deutschland im Rahmen des Humanistentages in Nürnberg. Im Zentrum der Tagung "Einsprüche gegen Postfaktizität" stand die Frage, wie ein zeitgenössischer Humanismus mit seiner spezifischen Verbindung von Wissenschaft und Weltanschauung politisch wirksam werden kann gegen die Zumutungen der sogenannten "Postfaktizität" und wie das Ringen um die Richtigkeit von Fakten und Normen verteidigt werden kann.

Den Einstieg in das Tagungsthema bildete der Vortrag "Verlässliche Erkenntnis – Warum ‚alternative Fakten‘ keine Option sind". Die am Philosophischen Institut der Universität Bonn lehrende Philosophin und Religionswissenschaftlerin Petra Kolmer vertrat die These, dass "Postfaktizität" nicht erst neuerdings durch Trump und Konsorten in die Welt gekommen sei. In einem knappen philosophiegeschichtlichen Überblick von der Antike bis in die Neuzeit veranschaulichte sie den Gästen, wie sich Kohärenztheorien von Wahrheit gegenüber Korrespondenztheorien durchgesetzt hätten: Letztere betrachten Wahrheit als eine Relation von Wirklichkeit und Wissen, erstere als ein stimmiges Verhältnis von Aussagen. Eine Vielzahl heute gängiger Wahrheitsverständnisse z.B. systemtheoretischer oder konstruktivistischer Provenienz basierten auf der Kohärenztheorie, ließen die Wirklichkeit weitgehend unthematisiert und beförderten dadurch eine Einstellung, auf die das Wort und die Bedeutung "postfaktisch" zutreffe. An Beispielen aus unserem alltäglichen Sprachgebrauch – "wahre Freundschaft", "wahre Liebe", "In Wahrheit…" – demonstrierte Kolmer, dass das mit Wahrheit letztlich Gemeinte keineswegs nur von akademischem, sondern von vitalem menschlichen Interesse sei: Wir suchen Verlässlichkeit in unseren sozialen Bezügen. Es gelte, das Bewusstsein lebendig zu halten, dass wir auf verlässliches Wissen angewiesen sind und dass wir beanspruchen, dass unsere Aussagen auch durch "die Wirklichkeit" und nicht nur willkürlich durch uns "wahr gemacht" werden. Wir können dabei kritisch die Konstruktionsbedingungen unserer Erkenntnis reflektieren, skeptisch bleiben in Bezug auf unseren Zugang zur Wirklichkeit und gleichzeitig unsere eigenen Ansprüche verteidigen, zwischen wahr und falsch unterscheiden zu wollen. In der anschließenden Diskussion wurde kontrovers darüber debattiert, ob es denn ausreiche, lediglich einen solchen allgemeinen Anspruch auf Wahrheit zu verteidigen. Zeigen nicht beispielsweise Debatten um Kreationismus oder auch Verschwörungstheorien – genannt wurden die "Flat-Earthers" – eine darüber hinaus gehende Notwendigkeit der direkten Verteidigung klarer Unterscheidungen von Wahrheit und Unwahrheit?  

Der zweite Vortrag zielte darauf ab, zu diskutieren, was eine menschengerechte Wirtschaftsordnung ist. Der Philosoph und Wirtschaftsethiker Gerhard Engel stellte grundlegende wirtschaftswissenschaftliche Gedanken zur Funktionsfähigkeit von Märkten, zum Problem externer Effekte und kollektiver Güter, zu Eigentumsrechten, Humankapital und Mentalitäten dar mit dem Anspruch, den Teilnehmenden eine fundierte Diskussionsgrundlage zu bieten, um sich der Frage danach, wie eine Wirtschaftsordnung menschengerecht gestaltet werden kann, selbst denkend und im Austausch mit anderen nähern zu können. In der anschließenden lebhaften Diskussion wurden die präsentierten Grundannahmen, denen auch der wirtschaftswissenschaftliche Mainstream zu folgen scheint, wie beispielsweise das Kalkül der rationalen Wahl der Individuen oder die Annahme einer Tragik der Allmende, in Frage gestellt. Diskutiert wurde die stark normative Orientierung der Wirtschaftswissenschaften und die fehlende Offenheit der universitären Wirtschaftswissenschaft für alternative Theoriekonzepte. Es stellte sich also mit Blick auf das Tagungsthema die Frage nach der Postfaktizität der Wirtschaftswissenschaften, denen der Referent mit dem Hinweis auf das hohe Erklärungspotential der von ihm präsentierten Ansätze begegnete. Gleichzeitig fanden die Teilnehmenden Beispiele, bei denen herkömmliche Modelle an ihre Grenzen kommen. Elendsviertel im globalen Süden seien eben nicht einfach nur Resultat von Marktversagen und Menschen durchaus auch in der Lage, im öffentlichen Raum mehr als ihre eigenen Interessen zu vertreten. Es wurde diskutiert, welche Rolle Verteilungsfragen und Chancengerechtigkeit spielen und warum eine menschengerechte Wirtschaftsordnung vor allem in den Blick nehmen muss, dass Wirtschaft dem Menschen dienen sollte und nicht umgekehrt.

Der dritte Vortrag thematisierte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Frage, wie sozial "social freezing" ist, eine medizinische Technik, bei der Eizellen eingefroren werden und zu einer zeitlich verschobenen Mutterschaft genutzt werden können. Die Medizinethikerin Viola Schubert-Lehnhardt erläuterte in ihrem Vortrag, dass Unternehmen wie Apple und Facebook ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern inzwischen anbieten, die Kosten für diese Technik zu übernehmen und in diesem Zuge auch in deutschen Medien viel darüber diskutiert wurde. Die Referentin stellte nach einem grundsätzlichen Vergleich von kurativer Medizin und Wunschmedizin die Frage, ob die Technik des Eizelleneinfrierens ein Freiheitsgewinn für die Frauen und Paare sei, die dann unabhängig von ihrer biologischen Uhr, auch mit Ende vierzig noch Kinder bekommen könnten, oder ob mit der Technik des "social freezing" eher ein soziales Problem mit medizinischen Mittel gelöst werde. In der Diskussion wurde diese Kontoverse aufgegriffen und thematisiert, dass unklar ist, welche Mitspracherechte die Unternehmen im Falle der Kostenübernahme wohl hätten, den Zeitpunkt der Fertilisation mitzubestimmen und ob Staat und Unternehmen mit der Förderung einer solchen Technik aus der Pflicht entlassen werden, für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu sorgen. Diskutiert wurde auch, inwiefern eine solche Technik Druck aufbaut, sich für eine späte Schwangerschaft zu entscheiden, wo sie doch medizinisch möglich sei, oder welche Auswirkungen eine sehr späte Elternschaft wohl auf das Wohl der Kinder habe. Einig war man sich, dass mehr über die Chancen und Risiken dieser Technik aufgeklärt werden müsse und dass die Förderung von "social freezing" kein Ersatz für familienfreundliche Arbeitsmarktpolitik sein könne. Kontrovers diskutiert wurde jedoch, inwieweit diese Technik staatlich reglementiert werden sollte oder ob die Entscheidung nicht jede Frau oder jedes Paar selbstbestimmt für sich treffen sollte. Die Frage, ob mit dieser Technik ein Freiheitsgewinn einhergehe, hinge eben entscheidend davon ab, ob die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so seien, dass eine wirklich freie und faktenbasierte Entscheidung dafür oder dagegen möglich ist.

Die Tagung wurde abgerundet durch den vierten Beitrag "Humanistische Werte für die Einwanderungsgesellschaft?". Ralf Schöppner, Geschäftsführer der Humanistischen Akademie Deutschland, nahm eingangs Bezug auf den aktuell im Humanistischen Verband diskutierten Entwurf eines neuen Humanistischen Selbstverständnisses und stellte dem Publikum fünf zentrale Überzeugungen daraus vor: Lebensfreude, Selbstbestimmung, soziale und politische Verantwortung, Kritik und Toleranz, Weltlichkeit. Warum er dabei stets von Überzeugungen und nicht etwa von Werten sprach, begründete er anschließend mit der inflationären öffentlichen Rede von Werten, die oftmals wenig aussagekräftig und politisch fragwürdig sei. Es werde verkannt, dass das Verständnis von Werten historisch und kulturell variabel sei; im Gestus eigener moralischer Überlegenheit würden die je eigenen Werte zum Zwecke ihrer allgemeinen Verordnung gerne als Ewige beschworen; Werte würden politisch instrumentalisiert und müssten oft auch dafür herhalten, notwendige Debatten um ausreichend vergütete Arbeit und bezahlbare Wohnung zu vermeiden. Dennoch, so Schöppner, müsse auch etwas dran sein an der Sache mit den Werten, wenn so viel darüber debattiert werde. Wer über Werte rede, dem seien Fragen des Lebens und Zusammenlebens wenigstens nicht gleichgültig; lebendige Debatten über gesellschaftliche Weiterentwicklung würden durch Wertediskurse ermöglicht. Letztendlich ginge es darum, weniger eine Gemeinschaft mit festgelegten Werten zu verteidigen als vielmehr eine, in der beständig um gemeinsame normative Fest- und Auslegungen gerungen wird. Schöppner plädierte – in Abgrenzung zu einem multikulturellen Nebeneinander – für ein echtes interkulturelles Miteinander, das sicherlich von Erfreulichem ebenso wie von wechselseitigen Zumutungen geprägt sei. Humanistische Integration – der Ansässigen wie der Dazukommenden – sei erstens ökonomisch-soziale Integration (Arbeit, Wohnung, Beziehung), zweitens juristisch-politische Integration (Grund- und Menschenrechte, Demokratie, Partizipation) und vor allem drittens auch das kulturelle, pädagogische und politische Werben für humanistische Lebenseinstellungen und Lebensformen. In der Diskussion ergaben sich insbesondere zwei Streitpunkte: Was genau kann einfließen in eine lebendige interkulturelle Debattenkultur, was aber ist unverhandelbar? Wird es gegenwärtig oder in Zukunft einen relevanten Bevölkerungsanteil in Deutschland geben, der sich solchen Debatten verweigert und Pluralismus und Demokratie gefährdet oder bekämpft?

Die Vorträge und Diskussionen konnten in ihrer Vielfalt und Kontroversität aufzeigen, wie man auch im Rahmen einer erkenntniskritischen Grundhaltung sowohl inhaltlich als auch methodisch durch Argumentieren, Zuhören und Debattieren begründete - und mindestens graduelle - Unterscheidungen in Hinsicht auf wahr und falsch, wahrscheinlich und nicht wahrscheinlich, richtig und falsch machen kann.

Autor*innen: Tina Bär und Ralf Schöppner

Zu einer Tagung der Humanistischen Akademie, Julian Nida-Rümelins Ethik der Migration und einer vergessenen Seite des Humanismus

Zu den gängigsten Fehlannahmen über Humanismus gehört, es handele sich um ein "Gutmenschentum", das angesichts globaler Flucht- und Migrationsbewegungen in naiver Weise offene Grenzen fordere und dem angesichts einer aggressiven Rechten nichts weiter einfiele als "Sorgen verstehen" und "den Menschen zuhören". Wobei es im Übrigen gegen gute Menschen mit solch ehrenwerten humanitären Ansprüchen gar nichts zu sagen gibt, vielmehr aber einiges gegen diejenigen, die das verhöhnen und mit ihrer Rede von der "Humanitätsduselei" doch nur die eigene Kälte vergessen machen wollen. Dennoch aber wäre Humanismus damit nur ungenügend verstanden, was sich auch auf einer gemeinsamen Tagung von Friedrich-Ebert-Stiftung und Humanistischer Akademie in Berlin zeigte. Mehr als 100 Gäste hatten sich am 13. Oktober 2017 versammelt, um mit sieben Referentinnen und Referenten über "Demokratie als Lebensform. Humanistische Antworten auf die autoritäre Herausforderung" zu debattieren.

Demokratie als Lebensform

Den Hauptvortrag hielt Julian Nida-Rümelin, Philosoph an der Ludwig-Maximilian-Universität München und ehemaliger Staatssekretär für Kultur (Kabinett Schröder 1998-2002). Er ist seit Jahren der einzige prominente Intellektuelle in Deutschland, der kontinuierlich und unerschrocken mit der Vokabel "Humanismus" operiert: "Humanismus als Leitkultur", "Philosophie einer humanen Bildung".[1] Auf der Tagung stellte er den Gästen einige demokratietheoretische Überlegungen vor: Angesichts aktueller Herausforderungen reiche es nicht aus, eine gemeinsame politische – republikanische – Identität aller Bürgerinnen und Bürger zu entwickeln, vielmehr bedürfe es zusätzlich einer couragierten Kultur des Respekts.

Der Gedanke einer solchen politischen Identität zielt darauf ab, den unterschiedlichen kulturellen und religiösen Identitäten einer pluralistischen Gesellschaft durch die Partizipation aller an der Gestaltung der Lebensverhältnisse eine gemeinsame Grundlage von Werten, Prozessen und Institutionen zu geben. Diese Forderung allein erscheint schon schwierig genug, setzt sie doch eine politische Haltung voraus, die die je eigenen Interessen zugunsten der allen gemeinsamen Interessen zu übersteigen vermag. Dagegen steht aber ein heute allgemein verbreitetes Verständnis von Politik als Interessensvertretung – als Lobbyismus, das fatalerweise der populistischen Losung "was das Volk wirklich will" nicht ganz unähnlich ist: Auch damit will man gerne die partikularen Ansichten einer Gruppe für alle verbindlich machen.

Weil aber – so Nida-Rümelin – die Politik keineswegs neutral sei gegenüber der Kultur, sondern ihre Normativität auch Auswirkungen auf die Kultur haben müsse, Demokratie also nicht nur Regierungsform, sondern auch Lebensform sei, deshalb bedürfe es zusätzlich einer Kultur des Respekts: Selbstverständlich sei es moralisch gefordert, dass wir bei Diskriminierungen im Alltag nicht einfach zuschauten, sondern für eine würdevolle Behandlung aller unabhängig von Kultur, Ethnizität, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, Alter usw. eintreten.

Keine offenen Grenzen, aus humanitären Gründen

Was auf der Tagung nicht zur Sprache kam, sich aber an dieser Stelle hinzuzunehmen lohnt, sind einige von Nida-Rümelins Überlegungen aus seinem aktuellen Buch "Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration"[2]. So manches Argument in diesem Essay dürfte nicht nur die gegen Humanismus Polemisierenden herausfordern, sondern auch viele Humanistinnen und Humanisten selbst. Setzt die Verwirklichung einer gemeinsamen politischen Identität und der Demokratie als Lebensform womöglich ein gewisses Grenzregime voraus?

In "Über Grenzen denken" spricht sich Nida-Rümelin aus demokratietheoretischen, kosmopolitischen und humanitären Gründen gegen offene Grenzen und gegen bestimmte Formen von Einwanderungspolitik aus. Eine zentrale These lautet: Offene Grenzen gefährden potentiell das Menschenrecht auf individuelle und kollektive Selbstbestimmung in einer politischen Gemeinschaft; es bedürfe vielmehr eines gesicherten Rahmens "staatlicher Institutionen" und einer "stabilen Gemeinschaft". Und ein weiteres wichtiges humanistisches Kriterium sei die "Sozialverträglichkeit" im Aufnahmeland: Weder die Zahl der Zuwanderer noch deren "Zusammensetzung" dürfe die erreichten Standards sozialer Sicherheit und sozialen Ausgleichs einfach so außer Kraft setzen.

Nida-Rümelin würdigt ausdrücklich die spontane deutsche "Willkommenskultur" (S. 155 f.), hält aber dennoch die anfängliche Politik der Bundesregierung für unvereinbar insbesondere mit dem Prinzip kollektiver Selbstbestimmung, da sie ohne wirkliche partizipatorische Prozesse auf nationaler wie auf EU-Ebene vollzogen wurde und so zum Erstarken einer rechten populistischen Bewegung nicht unerheblich beigetragen habe. Die humanitär verständliche Forderung nach einer Politik der offenen Grenzen kann demnach in Konflikt geraten mit dem zentralen humanistischen Prinzip der Selbstbestimmung.

Wohlgemerkt: sie kann es. Denn: "Es gehört zum kollektiven Selbstbestimmungsrecht einer Bürgerschaft, die sich in einem Staat organisiert hat, zu entscheiden, wie sie leben möchte, mit wem sie leben möchte, ob sie kulturelle, soziale und ökonomische Veränderungen akzeptiert oder nicht. Es gibt keine moralischen Gründe, die sie zwingen könnten, dieses Selbstbestimmungsrecht aufzugeben. Natürlich kann sie sich dafür entscheiden, die Veränderungen zu akzeptieren, die Grenzen zu öffnen, bislang nicht Beteiligte an der politischen Meinungsbildung teilhaben zu lassen, neue Kooperationsformen zu etablieren, Wohlfahrtsverluste hinzunehmen." (S. 163)

Weiter sei es aus humanistischer Sicht "hochproblematisch", wenn westliche Länder durch gezielte Einwanderungspolitik hochqualifizierte Einwanderer abwerben (braindrain) und so die Entwicklungsmöglichkeiten der Herkunftsländer dramatisch schwächen. Letztendlich würden die Fluchtursachen dadurch nicht bekämpft, sondern perpetuiert. Dies spreche zwar nicht prinzipiell gegen Einwanderungsgesetze, wohl aber für mindestens substanzielle Kompensationszahlungen an die Auswanderungsländer.

Das alles mag einigermaßen gegenstrebig erscheinen zum allgemeinen Bild von Humanismus und auch zum humanistischen Mainstream. Aber die Lektüre des Buches lohnt gerade deshalb, weil es auf hohem argumentativen Niveau Selbstverständlichkeiten in Frage stellt, ohne doch Konzessionen an die politische Rechte zu machen. Denn wer spricht es schon so klar und deutlich aus, dass der globale Zustand der Welt – die Armut und Not eines Großteils der Menschen bei gleichzeitiger Ressourcenfülle und Reichtum – schlichtweg ethisch und politisch nicht verantwortet werden kann? Und dass sich Migrationspolitik daran zu messen habe, ob sie zu einer humaneren und gerechteren Welt beiträgt? Aus dieser Grunddiagnose ergeben sich bei Nida-Rümelin die genannten, so diskutablen wie kontroversen Thesen.[3]

Wehrhafter Humanismus

Auf der Tagung oblag es Frieder Otto Wolf, ehemaliger Europa-Abgeordneter der Grünen und seit einigen Jahren Präsident der Humanistischen Akademie, ebenfalls eine ähnlich überraschende Stoßrichtung anzubieten. Er bezog den forschen und eher etwas peinlichen Ausspruch "dann gibt es auf die Fresse", den die neue Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Andrea Nahles, in einem anderen Zusammenhang geäußert hatte, auf die Fragestellung der Tagung: Humanismus sei keinesfalls wehrlos gegen Leute, die sich über wechselseitiges Verstehen und Dialog doch nur kaputtlachen würden; wenn Demokratie und Menschenrechte von ihren Feinden bedroht seien, dann müsse man sich im Extremfall eben auch anders als nur mit Worten zu wehren wissen.  

Ohne historische Vorläufer ist das nicht: Thomas Mann schrieb 1936: "Was heute nottäte, wäre ein militanter Humanismus, von der Einsicht erfüllt, daß das Prinzip der Freiheit, der Duldsamkeit und des Zweifels sich nicht von einem Fanatismus, der ohne Scham und ohne Zweifel ist, ausbeuten und überrennen lassen darf; von der Einsicht, daß er das Recht nicht nur, sondern auch die Pflicht hat, sich zu wehren."[4] Sein politisch etwas anders aufgelegter Bruder Heinrich sekundierte im selben Jahr: "Humanisten taugen erst dann etwas, wenn sie, anstatt nur zu denken, auch zuschlagen."[5] Und auch Siegfried Marck (1889-1957), Philosoph, Pazifist und Sozialdemokrat, verstand seinen "sozialistischen Neuhumanismus" als politisch, der unter Bedingungen politischer Kämpfe auch militant sein müsse.[6]

Auf dem Podium im zweiten Teil der Tagung berichtete Jennifer Stange, Journalistin und Buchautorin[7], von aktuellen Erfahrungen, die an die historischen zu erinnern scheinen. In Sachsen seien derartige Diskussionsveranstaltungen mittlerweile unmöglich und sie habe leider lernen müssen, dass es Grenzen gäbe für wechselseitiges Verstehen und konstruktiven Dialog. Wenn z.B. die Ungleichheit von Mann und Frau derart offensiv vertreten werde, dann komme man mit Argumenten nicht weit, dann ginge es nicht um Belehrung oder Aufklärung, sondern schlichtweg um Abwehrkampf und klares "Dagegenhalten". Und manchmal sei dann nur noch ein "Jetzt haltet endlich die Fresse" angebracht.

Der kirchliche Vertreter auf dem Podium, Henning Flad, Projektleiter der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus, nahm das natürlich dankbar auf, um seinerseits den Versöhnungsgedanken stark zu machen: Man könne auch höflich bleiben und dabei deutlich widersprechen. Insgesamt schien dies aber gar nicht so sehr ein harter Dissens zu sein, sondern eher die Erkenntnis, dass es für unterschiedliche Situationen mit unterschiedlichen Menschen auch unterschiedliche Strategien gibt. Es war dabei aber erfrischend, feststellen zu können, dass die humanistische Praxis in extremen Situationen durchaus auch eine gewisse Wehrhaftigkeit umfasst. Ein Dissens zwischen diesen beiden Podiumsteilnehmenden hingegen zeichnete sich bei der Einschätzung ab, ob es bei den Kirchen in Deutschland ausreichend Distanz zu AfD und Co., insbesondere auch zu den Fundamentalisten in den eigenen Reihen gäbe, oder eben nicht.

Klare Kanten

Eingeleitet hatte das Podium Jana Faus, Meinungsforscherin bei der pollytix strategic research GmbH, mit einigen empirischen Daten. Das neue Erstarken des rechten Autoritarismus sei kein Rechtsruck, sondern die Manifestation einer jahrzehntealten Latenz. Erklärt werden müsse es weit weniger ökonomisch –  AfD-Wähler verfügten eher über mittlere bis höhere Einkommen –  als vielmehr kulturell: Dieses Spektrum hänge an spezifischen Wertvorstellungen einer sogenannten "deutschen Kultur", verbunden insbesondere mit der Ablehnung eines hedonistischen, an Selbstverwirklichung orientierten Lebensstils. Sheila Mysorekar, Vorsitzende bei Neue deutsche Medienmacher, und Susanne Kitschun, Vorsitzende der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und Sprecherin für "Strategien gegen rechts", plädierten beide dafür, dass Medien und Politik "klare Kante" zeigen müssten. Die Übernahme der Rede von den "besorgten Bürgern" sei nur ein Beispiel von vielen, wie schnell unhinterfragt rechte Diskursstrategien übernommen würden, in diesem Fall der rechte Code für "gegen Einwanderung sein".

Bei den Fragen aus dem Publikum zeigte sich einmal mehr, wie schwierig es bei solcherlei "klaren Kanten" sein kann, neben der eigenen Kritik am neuen völkischen Nationalismus und politischer Religion überhaupt noch andere Gedanken loszuwerden, die die Fragestellenden vielleicht darüber hinaus auch ernsthaft umtreiben: Wer nachfragt in Bezug auf die "schwierige Integration junger Männer" oder auf die befürchtete, religiös begründete Missachtung von Gesetzen, gerät schnell in Verdacht, selber rechts zu sein oder doch zumindest rechte Diskurstrategien zu übernehmen. Es ist natürlich sinnvoll, auch dem humanistisch Gesonnenen seine womöglich verleugneten potentiellen Vorurteile aufzudecken, doch darf dies nicht dazu führen, antiwestlichen Modernismus nicht mehr kritisch problematisieren zu dürfen. Hier wurde deutlich, dass es durchaus noch weiteren Bedarf an Differenzierung und damit auch an weiteren Tagungen zu diesen Themen bedarf. Eine vielgehörte Rückmeldung an diesem Abend war, dass die erlebte Veranstaltung aufgrund ihrer zwei Gesichter, konzeptionell-theoretisch im ersten Teil und praktisch-politisch im zweiten, sowie der je auf ihre Weise überzeugenden Referentinnen und Referenten den Besuch allemal wert war.

 

Ralf Schöppner

 

 

[1] Julian Nida-Rümelin: Humanismus als Leitkultur. Ein Perspektivwechsel. München 2006. – Julian Nida-Rümelin: Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg 2013.

[2] Julian Nida-Rümelin: Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration. Hamburg 2017.

[3] Zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit dem Humanismus-Verständnis von Julian Nida-Rümelin siehe: Ralf Schöppner: Humanismus ist keine Weltanschauung? Eine Rezension von: Julian Nida-Rümelin: Humanistische Reflexionen, http://www.humanismus-aktuell.de/content/humanistische-reflexionen.

[4] Am 11. Juni 1936 in der Tageszeitung Pester Lloyd, einer deutschsprachigen Tageszeitung aus Budapest.

[5] Heinrich Mann: Ein denkwürdiger Sommer (1936). In: Heinrich Mann: Verteidigung der Kultur. Berlin/Weimar 1973, S. 141.

[6] Siegfried Marck: Der Neuhumanismus als politische Philosophie. Zürich 1938.

[7] Jennifer Stange: Evangelikale in Sachsen. Ein Bericht. Herausgegeben von Weiterdenken - Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Dresden 2014.

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