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  • Foto: Serkan Michael Wels

Die Regenbogenhauptstadt hat deutliche Kratzer in ihrem Regenbogen

Liebe Freund_innen,

die Ehe für Alle ist Realität, Regenbogenfamilien sind hier bei uns in Berlin Teil des Alltags, Vielfalt ist ein gelebtes Prinzip in dieser Stadt. Warum also stehen wir heute, am Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie, noch hier? Wofür wollen wir uns heute hier noch stark machen und wofür müssen wir hier heute unsere Stimme erheben – laut und deutlich?

Natürlich geht es darum, heute gegen Homophobie und Transphobie die Stimme zu erheben, zu zeigen, dass es ein gesellschaftlich breites Bündnis gibt, dass die Aggressivität und Gewaltbereitschaft, mit der manche Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen und anders sexuell Orientierten begegnen, nicht nur nicht hinnimmt, sondern dieser inhumanen Haltung aktiv widerspricht.

Es ist nur schwer vorstellbar, zu realisieren, welche Erfahrungen queer lebende Menschen in einer Stadt wie Berlin immer noch machen müssen.

Dumme und abwertende Sprüche in der S-Bahn gehören noch zu den harmloseren Erfahrungen, von denen mir berichtet wird. Menschen, die – besonders gern in Gruppen – auf queere und Transmenschen losgehen, diese beleidigen, schlagen und treten, die ihnen ihre Handys herunterreißen, wenn sie diese Übergriffe festhalten wollen, sind in Berlin leider keine Seltenheit.

Allein 2017 hat das Berliner Anti-Gewalt-Projekt Maneo 324 Übergriffe gezählt, das ist fast ein Übergriff täglich. Und das sind nur die offiziellen Zahlen, die Dunkelziffer ist weit höher – weil Betroffene sich schämen, ihre Peiniger nicht anzeigen oder fürchten, bei den Sicherheitskräften die nächste Demütigung zu erfahren.

Wir alle leben in einer Stadt, in der queere Menschen nach zehn Uhr abends mit einem mulmigen Gefühl in S- und U-Bahn steigen. Das ist unerträglich, das können und dürfen wir nicht hinnehmen.

Die Regenbogenhauptstadt, man muss es leider so sagen, hat deutliche Kratzer in ihrem Regenbogen. Jede_r einzelne von uns trägt hier Verantwortung, denn es gilt, nicht nur heute, sondern tagtäglich aufzustehen gehen diese Lebens- und Menschenfeindlichkeit, die sich in der Mitte unserer Gesellschaft breitmacht.

Homophobie und Transphobie hat nicht nur eine Seite. Es sind nicht nur die aggressiven und gewalttätigen Übergriffe, in denen sich der Hass gegen Liebende aller Couleur spiegelt.

Etwa wenn AfD-Parlamentarier beweisen wollen, dass Homosexuelle – ich zitiere das ungern, aber es muss an dieser Stelle sein – "widernatürlich", "genetisch degeneriert" oder "unnormal" – Ende der Zitate – sind. Ich frage mich, was für einen Menschen- und Selbsthass man in sich tragen muss, um derartige Abscheulichkeiten von sich zu geben.

Homophobie und Transphobie schlagen sich auch in der Gesundheitspolitik nieder, wenn die Verfechter so genannter Konversionstherapien meinen, Homosexuelle heilen zu wollen. Heilen wovon, fragen wir uns alle hier...? Gesundheitsminister Jens Spahn ist hier aufgerufen, diesem Irrsinn ein Ende zu machen.

Homophobie und Transphobie sollten uns aber auch alle viel niedrigschwelliger beschäftigen. Auf Berliner Schulhöfen, auf der Straße und im Park sind Begriffe wie "Schwuchtel" und "Tunte" fast schon eine normale Form der verbalen Auseinandersetzung. Mit der Zuschreibung queerer Merkmale soll das Gegenüber klein gemacht und getroffen werden. Schon die Kleinsten lernen das. Auch das können und dürfen wir nicht hinnehmen.

Homophobie und Transphobie äußert sich nicht zuletzt auch darin, dass wir heute überhaupt darüber sprechen müssen. Denn erkläre mir doch jemand, warum wir gesellschaftlich darüber diskutieren müssen, in welcher Haut sich Mensch wohler und zu wem sich Mensch hingezogen fühlt? Wäre es nicht besser, Vielfalt – und damit auch die sexuelle Vielfalt – wäre überhaupt kein Thema? Wahrscheinlich schon. Aber wie sagen mir unsere Kolleg_innen in unserer queer*human-AG? Damit sexuelle Vielfalt kein Thema mehr ist, muss sie erst in alle Köpfe. Und damit sie in alle Köpfe kommt, dafür stehen wir heute hier.

Vielen Dank.