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Ohne Christen geht gar nichts oder: Die ganz normale christliche Selbstüberschätzung

Es ist nahezu unmöglich, auch nur einen Satz aus diesem Artikel unwidersprochen stehen zu lassen. Nein, die Ablehnung eines Kreuzes auf der Kuppel des Berliner Schlosses ist keine "kulturelle Selbstverleugnung", sondern die Akzeptanz einer kulturell pluralistischen Gesellschaft, in der das Kreuz eben nicht mehr allen Bürger_innen von einer Staatsministerin verordnet werden kann.

Nein, durch die Ablehnung eines Kreuzes auf der Kuppel des Berliner Schlosses wird nicht "jede Form der Rückbindung an das Eigene zum Anachronismus", sondern nur solche Formen der Rückbindung an das Eigene, die das eigene Eigene für das Eigene aller halten.

Nein, die "Kultur des Abendlandes" wäre "ohne die enorme Inspirationskraft der christlichen Theologie" keineswegs "um vieles ärmer an Geist und Sinnlichkeit". Vielleicht wäre sie sogar reicher, wenn die christlichen Kirchen sich nicht so lange machtvoll gegen Demokratie, Menschenrechte und Pluralismus gewehrt hätten.

Nein, die "Entchristlichung der Gesellschaft" (Institut für Demoskopie, Allensbach) ist nicht einfach auf die "Arbeit" der "SED-Diktatur" zurückzuführen. Sie hängt schlichtweg damit zusammen, dass die christliche Religion sehr vielen Menschen heute nichts mehr zu sagen hat, weil sie auf zweifelhaften metaphysischen Voraussetzungen beruht.

Nein, wer nicht christlich ist, der ist nicht "unbehaust", "erbärmlich opportunistisch", "spirituell abstinent", "bindungslos" und "genusssüchtig". Selbstverständlich kann man auch ohne christliche Religion ein gutes und verantwortungsvolles Leben führen. Im Übrigen ist die alte christliche Leib- und Genussfeindlichkeit doch eigentlich auch innerhalb des Christentums zu den Klosterakten gelegt worden.  

Nein, nicht "nur eine Gesellschaft, die ihre eigene Identität pflegt" kann "dem Fremden Raum geben, ohne sich bedroht zu fühlen". Eine pluralistische Gesellschaft kann durchaus unterschiedliche Identitäten pflegen, ohne dass sie deshalb fremdenfeindlich ist. Und die Pflege einer gemeinsamen politischen Identität darüber hinaus bestünde gerade darin, einen Abstand zu der jeweils eigenen partikularen kulturellen Identität zu gewinnen.

Nein, das Geben von "Halt" und "Orientierung" ist genauso wenig ein christliches Monopol wie das Ringen um "Antworten auf letzte Fragen" oder das Lenken des Blicks "über Vordergründiges hinaus".  Was denkt die Staatsministerin für die Kultur aller Bürger_innen eigentlich über den Teil der Kultur, der nicht so christlich ist wie sie?

Nein, die Menschenwürde in der deutschen Verfassung hat nicht ihre "Quelle im christlichen Glauben", sie hat ihre Quelle im antiken Humanismus (Ciceros dignitas hominis), in Renaissance, Aufklärung und verlorenem Krieg. Wahr ist aber, dass die Menschenwürde auch mit "dem christlichen Glauben, in dem der Mensch Ebenbild Gottes ist und jeder Mensch dieselbe Würde hat" begründet werden kann, selbst wenn dies in der historischen Praxis des Christentums nicht immer so gesehen wurde.  

Nein, das Christentum hat auch nicht das Monopol auf "Barmherzigkeit". Nicht nur, dass wir diese auch schon beim Heiden Cicero und in der stoischen Ethik finden (misericordia), man sollte vor allem nicht annehmen, dass anderen Kulturkreisen Dinge wie Güte, Erbarmen und Mitmenschlichkeit fremd seien.   

Nein, "Verständigung erfordert" keineswegs "ein Bewusstsein der eigenen Identität: Klarheit darüber, was uns ausmacht als Deutsche und als Europäer". Identitäten sind zumeist unklar, fragil, hybrid und in Bewegung. Sie setzen Verständigung eher voraus als dass sie eine Vorbedingung von Verständigung wären. Wie sollte es überhaupt interkulturelle und interreligiöse Verständigung geben können, wenn alle zunächst erst ihre Identitäten vollends zu klären hätten? Es gäbe dann gar keine Verständigung mehr, sondern nur noch Abschottung.

Nein, der deutsche Staat ist kein christlicher Staat, sondern er ist und sollte sein: religiös neutral. Dass eine Staatsministerin sich so deutlich vom Geist des Grundgesetzes abwendet und in Richtung Gottesstaat denkt, muss irritieren. Religiöse Neutralität, und hier liegt wohl die gedankliche Konfusion, bedeutet ja keineswegs Wertneutralität bzw. die von der Ministerin gefürchtete "schlichte Indifferenz".  

Nein, Demokratie braucht keine "Kultur des Glaubens". Sie kann auch ausgezeichnet ohne christlichen oder anderen religiösen Glauben funktionieren. Selbstverständlich aber ist eine "Kultur des Glaubens" innerhalb der Demokratie willkommen, solange sie sich deren Institutionen und Prozessen unterordnet. Sie kann Bestandteil einer pluralistischen Kultur sein. Glauben sollte man nur nicht, dass nur Christen an etwas glauben, für das sie einstehen und sich engagieren.   

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Prof. Dr. Ralf Schöppner
Geschäftsführer

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