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Wegweisendes Urteil zur Selbstbestimmung am Lebensende

Das geht aus der schriftlichen Begründung des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig hervor, das über die Restitutionsklage eines Mannes entscheiden musste, dessen Frau infolge eines Unfalls an einer hochgradigen Querschnittslähmung litt. Sie war vom Hals abwärts gelähmt, musste künstlich beatmet werden und war auf ständige medizinische Betreuung und Pflege angewiesen. Häufige Krampfanfälle verursachten starke Schmerzen. Nach ärztlicher Einschätzung bestand keine Aussicht auf Besserung ihres Zustandes. Die Frau empfand diese Leidenssituation als  unerträglich und entwürdigend und hatte den Wunsch, ihr Leben zu beenden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hatte ihren Antrag auf Erwerb einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital abgelehnt. Seither klagte sich die Familie durch die Instanzen. Der Ehemann der inzwischen verstorbenen Frau musste vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sogar erstreiten, dass die nationalen Gerichte die Begründetheit seiner Klagen prüfen.

Das Bundesverwaltungsgericht entschied nun, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte verpflichtet war, der Frau den Erwerb von 15 g Natrium-Pentobarbital zur Selbsttötung zu erlauben.

In der Urteilsbegründung heißt es:

"Ein ausnahmsloses Verbot, Natrium-Pentobarbital zum Zweck der Selbsttötung zu erwerben, greift in das grundrechtlich geschützte Recht schwer und unheilbar kranker Menschen ein, selbstbestimmt darüber zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben enden soll.

Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde sichern gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Dazu gehört, dass der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann. Ausdruck der persönlichen Autonomie ist auch der Umgang mit Krankheit. Die grundrechtlich geschützte Freiheit schließt deshalb das Recht ein, auf Heilung zielende medizinische Behandlungen oder sonstige therapeutische Maßnahmen abzulehnen. Das gilt auch für die Ablehnung lebensverlängernder Maßnahmen. Einfach-gesetzlich findet dies eine Bestätigung in den Regelungen über die Patientenverfügung (§§ 1901a ff. BGB). Ohne Einwilligung des einwilligungsfähigen Patienten oder gegen den tatsächlich geäußerten oder mutmaßlichen Willen des einwilligungsunfähigen Patienten dürfen lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahmen weder eingeleitet noch fortgesetzt werden.

Ausgehend davon umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll, vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln. Dabei beschränkt sich der Grundrechtsschutz nicht auf Fälle, in denen infolge des Endstadiums einer tödlichen Krankheit der Sterbeprozess bereits begonnen hat oder unmittelbar bevorsteht. Die verfassungsrechtlich gebotene Achtung vor dem persönlichen Umgang des Einzelnen mit Krankheit und dem eigenen Sterben schließt auch die freiverantwortlich getroffene Entscheidung schwer kranker Menschen ein, ihr Leben vor Erreichen der Sterbephase oder losgelöst von einem tödlichen Krankheitsverlauf beenden zu wollen."

Der Erwerb eines Betäubungsmittels für eine Selbsttötung sei daher ausnahmsweise vereinbar, wenn sich der suizidwillige Erwerber wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befindet.

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