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Gedankenraum 1 - Die Frage nach dem Sinn.

"Wenn aufeinmal alles anders ist, ergibt es alles eigentlich einen Sinn?"

DR. ALEXANDER BISCHKOPF ist Historiker und Referent für Weltanschauung im Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg.
 

An guten Ratschlägen, wie der Corona-Krise Sinn abzuringen ist, mangelt es derzeit nicht. Mal ganz persönlich: die Entschleunigung einer überdrehten Echtzeit-Gesellschaft erlaube es endlich zur Ruhe und zu sich selbst zu kommen (warum eigentlich erst jetzt?!) oder ganz praktisch, die eigenen vier Wände endlich gründlich auszumisten. Mal gesamtgesellschaftlich: die Krise wirke als Beschleuniger des Wandels, durch den Altes schneller überwunden werden wird. Und man solle diese Chance nutzen und den Wandel mitgestalten. Auf internationalem Maßstab wird dann bereits das Ende der Globalisierung eingeläutet, wenn nicht sogar das Ende des Kapitalismus insgesamt.

 

Welchen Sinn hat Corona?

Manche gehen noch weiter, stellen die Sinnfrage grundsätzlicher und fragen nach dem "Sinn an sich", dem "Sinn hinter allem". Menschliches Handeln wird dabei aus dieser Perspektive bewertet und in den jeweiligen "höheren Sinn" eingebettet, wenn nicht sogar ein vom Menschen losgelöster, "objektiver Sinn" behauptet wird. So würde sich "die Natur" wehren: gegen Überbevölkerung, gegen "das Virus Mensch". In seiner nüchternen Variante wird "der Natur" unterstellt, eine Balance anzustreben, die der Mensch durcheinandergebracht habe. Diese Argumentation nutzt aktive Verben und behauptet Tätigkeiten, die einen Willen, eine Absicht und ein Ziel voraussetzen.

Ein Virus hat aber keine Absichten, keinen Willen und auch kein Ziel.

Er verhält sich rein passiv – was bei einem Virus letztlich leicht nachzuvollziehen ist. Schließlich erfolgt selbst die eigene Reproduktion mittels anderer Lebewesen. Da es bei einem Virus zu offensichtlich ist, wird er in einen unmittelbaren Sinnzusammenhang gestellt und zum Instrument "der Natur" erklärt, dem nun Willen, Plan und Absicht mit einem bestimmten Ziel unterstellt wird. (Wobei sich dann sofort die Frage stellt, wer oder was das eigentlich ist, diese Natur?). Doch mit dieser Zuschreibung wird "die Natur" lediglich "vermenschlicht". Eine Pandemie wie Covid-19 tritt ein, einfach, weil es prinzipiell möglich ist und für das Virus geeignete beziehungsweise günstige Voraussetzungen vorhanden waren.

Wille, Absicht und Ziel, und damit auch Sinn sind allein menschliche Begriffe.

Sie sind Ausdruck der Versuche der Menschen, die Welt und sich selbst beschreibbar zu machen und zu begreifen – um sich in der Welt verorten und handeln zu können. Sie beruhen stets auf individuellen Erfahrungen und beziehen sich dementsprechend immer auf Kontexte eines konkreten menschlichen Lebens. "Die Welt" ist – soweit wir wissen – nur durch Menschen erfahrbar und beschreibbar. Jede Welt- und Selbstbeschreibung ist, ebenso wie jeder darauf aufbauende Erklärungsversuch, ein menschliches Konstrukt. Und nur zwischen Menschen ist ein Austausch über diese Konstrukte möglich. Und da der Mensch ein begrenztes Lebewesen ist, das nur begrenzte (Sinnes-)Erfahrungen machen und nur bedingte Gedanken denken kann, können sich Menschen allein über ihre jeweiligen Interpretationen austauschen. Dieser Gedanke wurde von Jean-Paul Sartre auf die Spitze getrieben, als er postulierte: "Es gibt kein anderes Universum als ein menschliches, das Universum der menschlichen Subjektivität."

Hat alles also keinen Sinn?!

Die Erkenntnis, dass Wille, Absicht, Ziel oder Sinn allein menschliche Begriffe und Kategorien sind, ist kein Grund für Nihilismus oder Verzweiflung. Im Gegenteil: sie ist eine der größten menschlichen Stärken, denn sie erlaubt es, dem eigenen Leben selbst einen Sinn geben zu können. Sie ermöglicht es, der Welt nicht völlig ausgeliefert zu sein und das eigene Leben nicht passiv erdulden zu müssen. Sie ermöglicht es, Erlebtes einzuordnen, zu verarbeiten und so Halt und Orientierung zu erlangen. Die Fähigkeit, dem eigenen Leben Sinn geben zu können, ist Voraussetzung für gezielte Veränderung, für Selbstermächtigung und damit Handlungsfähigkeit. Und nicht zuletzt ist es die Voraussetzung, sich für gewisse Werte entscheiden und an ihnen orientieren zu können. Sie ermöglicht es, durch eigenes Nachdenken ebenso wie im Austausch mit anderen eine, im unmittelbaren Wortsinn, Lebenskunst zu entwickeln. Es ist die einzigartige Fähigkeit dem sinnlosen Virus menschlichen Sinn entgegenzustellen!

Aber wie gelingt das?

Die Suche nach festem Grund kann überall dort entstehen, wo der Versuch unternommen wird, die Welt zu erklären  ̶  in Religionen, Wissenschaften oder Philosophie. Es ist die Suche nach etwas Transzendentem, etwas "Übermenschlichem", ein über dem Individuum und seinem Fühlen und Denken stehender "Sinn". Problematisch wird es, wenn der "Versuchung" nachgegeben wird und eine objektive (und im bedenklichsten Fall unkritisierbare) Wahrheit, der wirkliche Sinn hinter allem, behauptet und als bindend für alle erklärt wird. Denn das Problem mit vermeintlicher Objektivität ist, dass das eigene Leben dort oftmals nicht so ganz hineinpassen möchte. Die individuelle Realität entspricht nur selten generalisierenden Festsetzungen und ist ebenso selten mit daraus abgeleiteten Vorgaben und Erwartungen in Einklang zu bringen. Ein "sinnvolles Leben" würde vor allem von äußeren Umständen und Voraussetzungen bestimmt werden. Außerdem wird so die Verantwortung auf die_den Einzelne_n abgewälzt. Wenn es nicht gelingt, dem "Wahren" und "Richtigen" zu entsprechen, ist die Schuldfrage geklärt: es hat dann schlicht an Wille oder Anstrengung gefehlt. Anpassung als Einbahnstraße – und kein gemeinsames Suchen, kein Aushandeln unterschiedlicher Interessen (mehr). Dem stellt der Humanismus Vertrauen auf das gegenüber, was wir tatsächlich erfahren: menschliche Beziehungen. Sie geben uns die Möglichkeit zur Kommunikation über das Menschliche, über das tatsächlich gelebte Leben. Und das ist, so profan es klingen mag, doch von zentraler existenzieller Bedeutung: unser gelebter Alltag.

Und?! Wie steht es da nun zurzeit? Wo stehen Sie? Haben Sie die Ruhe schon zur inneren Einkehr und Reflexion genutzt oder sind Sie bereits am Versuch gescheitert, Homeoffice und Kinderbetreuung miteinander zu vereinbaren? Die Entschleunigung schon zur Muße und Selbstverwirklichung genutzt, oder ruft schon die nächste Extraschicht in einem systemrelevanten Beruf (oder andersherum: war das Leben schon vor Corona dermaßen entschleunigt, dass nun nur noch Vereinsamung übrigbleibt)? Schon über die Vorzüge des beschleunigten Wandels spekuliert, oder doch eher Teil des "alten Eisens", das es zu überwinden gilt, für das kein Platz mehr im Neuen ist? Man muss es sich leisten können, um über Utopien räsonieren zu können. Und zum Ausmisten muss man erstmal genug Überflüssiges besitzen. Nicht selten steht vor der Utopie die (Verarbeitung einer persönlichen) Katastrophe.

Der Mensch ist weder ein Souverän, der – soweit es auch andere betrifft – grundlos und willkürlich zu entscheiden berechtigt ist, noch ein ‚Privateigentümer seiner selbst‘, der über "seine Sachen" willkürlich verfügen kann. Er ist ein Lebewesen, das unter ihm vorgegebenen Bedingungen lernen muss, zu leben, zu lieben und zu arbeiten. Jedes Erleben der Corona-Pandemie ist einzigartig und jeder Weg durch die Krise zu kommen ist individuell. Gewiss ist nur, dass niemand die Krise alleine durchstehen wird und zugleich jede_r ihre_seine eigenen Herausforderungen zu meistern hat. Doch wir sind dem Virus nicht bedingungslos ausgeliefert, müssen nicht fatalistisch aushalten und ertragen. Menschen haben aber die einzigartige Möglichkeit zum Austausch über kreative Lösungen, den Umgang mit dem Virus soweit wie möglich selbst zu gestalten.

Das kann auf individueller Ebene bedeuten, sich Hilfe und Unterstützung bei anderen Menschen zu suchen, sich gegenseitig Trost und Mut zu spenden – oder aber auch Inspiration, den Alltag zu bewältigen. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene erlaubt es, gemeinsam über möglichst faire Regeln des Zusammenlebens nachzudenken.

Dazu ist der "Ameisenverkehr" der Vielen in Gesprächen und Diskussionen notwendig. Aber es lohnt sich! Menschen haben die Chance zu begreifen, was um sie herum und mit ihnen geschieht – und entsprechend darauf zu reagieren. Nur miteinander werden wir sowohl als Individuum wie auch als Gesellschaft die Krise bewältigen. Damit das gelingt, zum Abschluss zwei Vorschläge: die Bereitschaft einander zuzuhören und die Perspektive der_des Anderen einzunehmen.

 

Diesen Beitrag finden Sie in unserem ersten Magazin der Freund_innen des HUMANISMUS, Ausgabe Juli-Spetember 2020.

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Dr. Alexander Bischkopf
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